DrohnenkriegUS-Bürger zum Abschuss freigegeben
Mit «Gummiparagraphen» verteidigt die Regierung Obama die Tötung von Amerikanern mit Drohnen: Es genügt der Verdacht, dass Terroranschläge geplant werden.

Hassprediger oder Terrorplaner? Anwar al Awlaki wurde durch einen Drohnenangriff getötet.
Sie sind zum Markenzeichen von Barack Obamas Antiterror-Krieg geworden: Die Angriffe mit unbemannten Kampfdrohnen auf mutmassliche Mitglieder des Terrornetzwerks Al Kaida. In den letzten zehn Jahren wurden rund 3000 Menschen in Pakistan, Jemen und Somalia durch Drohnen getötet – etwa gleich viele wie bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Der verdeckte Krieg ist umstritten, weil immer wieder unschuldige Zivilisten getroffen werden. Und weil auch amerikanische Staatsbürger bei Angriffen ums Leben kamen.
Im September 2011 wurde der in New Mexico geborene Anwar al Awlaki, ein führendes Mitglied der Al Kaida im Jemen, durch einen gezielten Drohnenangriff getötet. Sein 16-jähriger Sohn und ein weiterer US-Bürger starben auf die gleiche Weise. Solche Tötungen sind juristisch höchst umstritten, denn amerikanische Staatsbürger sind eigentlich durch die Verfassung vor staatlicher Willkür geschützt. Nun wurde dem Fernsehsender NBC ein 16-seitiges Memo des Justizministeriums zugespielt, das die rechtlichen Grundlagen auflistet.
«Unmittelbare Bedrohung»
Dieses so genannte «White Paper» beruft sich auf das Recht auf Selbstverteidigung. Die US-Regierung dürfe eine tödliche Operation gegen einen US-Bürger anordnen, wenn es sich um einen «hochrangigen, operativen Führer» von Al Kaida handle und eine «unmittelbare Bedrohung eines gewaltsamen Angriffs auf die USA» bestehe. Dieser Begriff wird ausgesprochen gummig ausgelegt: Ein klarer Beweis, dass eine spezifische Attacke in der unmittelbaren Zukunft bevorsteht, sei «nicht erforderlich», heisst es in dem Memorandum, weil Al Kaida «ständig an der Planung von Terroranschlägen gegen die USA» beteiligt sei.
Im Klartext: Es genügt, dass ein Amerikaner in einer führenden Rolle bei Al Kaida tätig ist, damit er ohne ordentliches Verfahren «eliminiert» werden kann. So wurde Anwar al Awlaki kurz nach dem tödlichen Angriff vom Weissen Haus als «Leiter der externen Operationen» von Al Kaida im Jemen bezeichnet. Zuvor war diese Umschreibung nie verwendet worden, schreibt die «Washington Post». Awlaki hatte zwar Kontakt zu Terrorverdächtigen, darunter dem «Unterhosenbomber» von Detroit. Doch er galt in erster Linie als Propagandist und Hassprediger. Es gibt keine Hinweise, dass er an der Planung von Anschlägen beteiligt war.
Bürgerrechtler sprechen von Heuchelei
Jay Carney, der Pressesprecher des Weissen Hauses, verteidigte die Tötung von US-Bürgern am Dienstag als «legal, ethisch und klug» und berief sich dabei auf ein Gesetz, das der Kongress drei Tage nach 9/11 beschlossen hat und das den US-Präsidenten befugt, mit militärischen Mitteln gegen Al Kaida vorzugehen. US-Bürgerrechtler allerdings reagierten entsetzt auf das Memo. Hina Shamsi von der American Civil Liberties Union (ACLU) bezeichnete es gegenüber der «New York Times» als «zutiefst verstörendes Dokument».
Andere Kritiker sehen in dem Memo ein Beispiel für jene unkontrollierte Regierungsmacht, die Barack Obama in seinem ersten Präsidentschaftswahlkampf angeprangert hatte. Vincent Warren, Direktor des Center for Constitutional Rights, bezichtigte den Präsidenten in der «Washington Post» deshalb der Heuchelei. Er habe die Veröffentlichung jener juristischen Dokumente angeordnet, mit denen die Regierung seines Vorgängers George W. Bush die Anwendung von Folter gerechtfertigt hatte. Seine eigenen aber halte er unter Verschluss.
Neuer CIA-Chef in der Kritik
Das Unbehagen hat auch den Kongress erreicht. Eine Gruppe von acht demokratischen und drei republikanischen Senatoren, angeführt von Demokraten Ron Wyden aus Oregon, forderte Präsident Obama am Montag in einem Brief auf, sämtliche Rechtsgrundlagen zu veröffentlichen, welche die Tötung von US-Bürgern legitimieren. Nur so könne man feststellen, ob die Befugnisse des Präsidenten «mit angemessenen Beschränkungen und Leitplanken» versehen seien, schreiben die Parlamentarier.
US-Medien halten es für keineswegs zufällig, dass das «White Paper» gerade jetzt an die Öffentlichkeit gelangte. Denn am Donnerstag muss sich John Brennan, Barack Obamas designierter CIA-Chef, der Anhörung durch den Senat stellen. Brennan war bislang der Antiterror-Berater des Präsidenten und gilt als Architekt des Drohnenkriegs. In dieser Funktion erstellt er die «Todeslisten», die Obama genehmigen muss. Seine Bestätigung dürfte kaum gefährdet sein, sie könnte sich jedoch verzögern: Senator Wyden kündigte an, dass er Brennan wegen der Tötung von Amerikanern in die Zange nehmen will.
Die Amerikaner schauen weg
Das letzte Wort in dieser Frage ist noch nicht gesprochen: Angehörige der getöteten Amerikaner haben die US-Regierung verklagt. Noch ist unklar, ob die Klage vor Gericht zugelassen wird. Die neue Debatte darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in den USA keine nennenswerte Opposition gegen den Drohnenkrieg und die Angriffe auf US-Bürger gibt. Sie werden als notwendiges Übel betrachtet. Dianne Feinstein, die Vorsitzende des Geheimdienstausschusses im US-Senat, betonte am Dienstag, mit der Veröffentlichung des «White Paper» durch NBC sei genügend Transparenz hergestellt worden.
Geheime Basis in Saudi-Arabien
Der US-Geheimdienst CIA benutzt einen Stützpunkt in Saudi-Arabien für tödliche Drohnenangriffe auf mutmassliche Al-Kaida-Mitglieder in Jemen. Bei einem dieser Angriffe wurde auch Anwar al Awlaki getötet. Die Lage der entlegenen Basis wurde am Dienstag von der Zeitung «New York Times» enthüllt.
Die Nachrichtenagentur Associated Press hatte bereits im Juni 2011 vom Bau des Drohnen-Stützpunkts berichtet, auf Bitten der US-Regierung aber die genaue Lage nicht genannt. Jeder Einsatz von amerikanischen Geheimdienstagenten oder Soldaten in Saudi-Arabien gilt aus politischen und religiösen Gründen als sehr heikel. (AP)