Liestal: Schülerin soll trotz Top-Noten in die Realschule

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Liestal BL«Verstehen die Welt nicht» – Schülerin soll trotz Top-Noten in die Realschule

Trotz eines Notenschnitts von 5,0 darf eine Baselbieter Schülerin nicht in den Leistungszug E der Sekundarschule. Der Ermessensentscheid des Klassenlehrers ist nicht anfechtbar.

An der Primarschule Frenke in Liestal wurde einer Schülerin der Übertritt in den E-Zug der Sekundarschule trotz mehr als ausreichender Noten nicht gewährt.
«Wir haben die Welt nicht mehr verstanden», sagen ihre Eltern. Der Klassenlehrer meinte, dass ihre Tochter dem Druck nicht gewachsen sein könnte. Dies, obschon die Schülerin in allen drei relevanten Fächern eine glatte Fünf hatte.
Eine Übertrittsprüfung zu absolvieren, ist die einzige Möglichkeit, den Entscheid der Klassenlehrperson zu korrigieren. Allerdings sind die Erfolgsaussichten auch dort gering. (Symbolbild)
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An der Primarschule Frenke in Liestal wurde einer Schülerin der Übertritt in den E-Zug der Sekundarschule trotz mehr als ausreichender Noten nicht gewährt.

Gemeinde Liestal

Darum gehts

  • Eine Baselbieter Schülerin wurde in den schwächsten Leistungszug der Sekundarschule eingeteilt, obwohl ihre Noten mehr als ausreichend gewesen wären für den besseren Leistungszug.

  • Der Entscheid des Klassenlehrers ist nicht anfechtbar im Kanton Baselland. «Wir haben die Welt nicht mehr verstanden», sagen ihre Eltern.

  • Der Entscheid ist problematisch. Die Einteilung in einen tieferen Leistungszug beeinträchtige die Bildungschancen negativ, sagt eine Bildungsforscherin.

«Sie hat alles, was man von ihr verlangt hat, umgesetzt. Es war ihr Wunsch, ins E zu gehen», sagen die Eltern von Manuela*. Die 13-Jährige hat bis Freitag die Frenke in Liestal besucht. Zum Zeitpunkt des Übertrittsgesprächs Ende November 2022 hatte sie in allen drei für den Schulübertritt relevanten Fächern Deutsch, Mathematik und NMG (Natur, Mensch, Gesellschaft) eine Fünf. Trotzdem teilte sie ihr Klassenlehrer in den schwächsten Leistungszug A ein. «Wir haben die Welt nicht mehr verstanden», sagen ihre Eltern.

Der Entscheid des Lehrers ist im Kanton Baselland nicht anfechtbar. Das ist in der entsprechenden Verordnung so festgehalten. Sind die Eltern mit dem Übertrittsentscheid nicht einverstanden, können sie ihr Kind für die Übertrittsprüfung anmelden. Ein anderes Mittel gibt es nicht. Für den Übertrittsentscheid sind nicht allein die Noten massgebend, sondern auch das Lern-, Arbeits- und Sozialverhalten des Kindes. Im vorliegenden Fall machte der Lehrer Bedenken geltend, dass Manuela dem Druck im E nicht gewachsen sei. Diese Argumentation können die Eltern nicht nachvollziehen. Manuela habe ihre Leistungen in den letzten beiden Schuljahren verbessert.

«Die Selbststigmatisierung ist nicht zu unterschätzen.»

Sandra Hafner, Bildungssoziologin

Der Entscheid ist auch aus Sicht der Bildungsforschung problematisch. «Es ist empirisch bestätigt, dass die Einteilung in einen Leistungszug der Sekundarstufe I die weiteren Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen im Falle der tieferen Leistungsniveaus negativ beeinträchtigt», sagt Bildungssoziologin Sandra Hafner, die an der Pädagogischen Hochschule der FHNW zum Übertritt von der Primar- zur Sekundarstufe forscht. Auch die Selbststigmatisierung sei nicht zu unterschätzen, die eine Zuteilung ins tiefste Leistungsniveau mit sich bringe.

Aus Studien wisse man auch, dass sich Lehrpersonen bei knappen oder unklaren Fällen an sozialen Merkmalen orientierten. Der klassische Fall wäre die Begründung, dass ein Nicht-Akademikerkind dem Druck womöglich nicht standhalten könne und zu Hause weniger gut unterstützt werde. «Wir sprechen hier auch von Mechanismen der institutionellen Diskriminierung», so Hafner. Gut gemeinte Absichten, wie der Schutz vor Überforderung oder Misserfolg, minderten die benachteiligende Wirkung des Übertrittsentscheids nicht.

«Die Zuweisungsempfehlungen der Lehrpersonen sind in den meisten Fällen korrekt.»

Beat Lüthy, Leiter Amt für Volksschulen

Den Vorwurf der Diskriminierung weist Beat Lüthy, Leiter des Amts für Volksschulen, entschieden zurück. Vorliegend sei problematisch, dass die Eltern ihre Tochter nicht zu den Übertrittsprüfungen geschickt hätten. «Damit hatte sie gar keine Chance, die Empfehlung zu ihren Gunsten zu korrigieren», so Lüthy. Darauf haben Manuelas Eltern tatsächlich verzichtet. Man habe sie ausdrücklich auf diese Möglichkeit hingewiesen. 250 andere Schülerinnen und Schüler hätten diese Prüfung absolviert.

Die Erfolgsaussichten an der Prüfung sind indes bescheiden. Eine Auswertung der Prüfungsergebnisse der Jahre 2017 bis 2021 vom Verein Starke Schule beider Basel zeigt, dass im Schnitt 94,7 Prozent aller Primarschulkinder die Anforderungen für das angestrebte höhere Niveau nicht erreichen. Das Ergebnis könne auf zwei Arten gelesen werden. Entweder die Einteilung der Primarlehrperson ist fast immer korrekt oder die Übertrittsprüfungen sind zu schwierig. Offensichtlich ist aber: Viele Schülerinnen und Schüler schaffen es nicht, an der Prüfung ihre Zeugnisnoten zu reproduzieren.

Für Volksschulamt-Leiter Lüthy ist klar, wie die Ergebnisse zu lesen sind. «Die Zuweisungsempfehlungen der Lehrpersonen sind in den meisten Fällen korrekt», hält er fest. Gegen die Resultate der Übertrittsprüfung würden auch nur sehr wenige Beschwerden erhoben, rund zwei bis drei pro Jahr.

«Der Lehrer kann eine willkürliche Entscheidung treffen, die nicht überprüft wird.»

Eltern von Manuela

«Wir haben Manuela nicht angemeldet, weil das unserer Meinung nach keinen Sinn machte. Sie wurde ja nicht wegen ihrer Leistung ins A eingestuft, sondern weil der Lehrer meinte, sie würde dem Druck nicht standhalten», erklären ihre Eltern. Sie sind der Meinung, dass die Verfügung der Lehrperson beschwerdefähig sein müsste. «Jetzt kann der Lehrer eine willkürliche Entscheidung treffen, ohne dass diese überprüft wird.» 

Manuelas Eltern ziehen nun die Konsequenzen aus der Geschichte und haben ihre Tochter an einer Privatschule angemeldet. Die dafür nötigen Ressourcen haben aber nicht alle Familien. 

*Name geändert

Die betroffene Schülerin besuchte die Primarschule Frenke in Liestal und nicht die Primarschule Frenkendorf, wie es in einer ersten Fassung des Artikels hiess. Die Redaktion bedauert den Fehler.

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