Vertauschte Schiffe und andere Mythen

Aktualisiert

100 Jahre «Titanic»Vertauschte Schiffe und andere Mythen

Spielte das Bordorchester bis zum bitteren Ende? War der Reeder ein Feigling? Und ist die «Titanic» gar nicht gesunken? Fakten zum berühmtesten Schiffsunglück der Geschichte.

Peter Blunschi
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Peter Blunschi
Die «Titanic» und ihr Schwesterschiff «Olympic» (rechts) während des Baus in Belfast. Wurden die beiden Schiffe vertauscht, um einen Versicherungsbetrug zu begehen?

Die «Titanic» und ihr Schwesterschiff «Olympic» (rechts) während des Baus in Belfast. Wurden die beiden Schiffe vertauscht, um einen Versicherungsbetrug zu begehen?

Der Untergang der «Titanic» in der Nacht zum 15. April 1912 gehört zu jenen denkwürdigen Ereignissen von welthistorischem Rang, die eine Kaskade an Gerüchten, Spekulationen und Verschwörungstheorien zur Folge haben. So etwa die Vermutung, der britische Ozeanriese sei von einem deutschen U-Boot torpediert worden – mehr als zwei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Als das Wrack 1985 gefunden wurde, zeigte sich: Keine Spur von einem Torpedo-Einschlag. Doch zahlreiche Mythen halten sich bis heute hartnäckig:

Ist der Untergang der «Titanic» die grösste Schiffskatastrophe der Geschichte?

Er ist das berühmteste, mit rund 1500 Todesopfern aber bei weitem nicht das verlustreichste Schiffsunglück. Allein im Zweiten Weltkrieg wurden mehrere Schiffe versenkt, die Tausende Menschen an Bord hatten. Die wohl grösste Katastrophe überhaupt war der Untergang des ehemaligen deutschen Kreuzfahrtschiffs «Wilhelm Gustloff», das am 30. Januar 1945 in der Ostsee von einem sowjetischen U-Boot torpediert wurde. An Bord befanden sich vermutlich mehr als 10 000 Menschen, vorwiegend Verwundete und Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten. Die genaue Zahl der Toten ist unklar, sie wird auf mehr als 9000 geschätzt. Das schlimmste Unglück der jüngeren Geschichte war das Kentern der senegalesischen Passagierfähre «Le Joola» am 26. September 2002. Die Havarie forderte offiziell 1863 Todesopfer.

Galt die «Titanic» als unsinkbar?

Die White Star Line als Eignerin hat dies selbst nie behauptet. Es war das Fachmagazin «The Shipbuilder», welches die «Titanic» als «praktisch unsinkbar» bezeichnet hatte – ein Verweis auf die Konstruktion des Schiffes mit zahlreichen Abteilen, die durch wasserdichte Schotten verschlossen werden konnten. Man ging davon aus, dass damit das Risiko eines Untergangs massiv vermindert werden konnte. Viele glaubten tatsächlich, die «Titanic» wäre unsinkbar. Umso grösser war der Schock, als schon auf der ersten Fahrt das Gegenteil eintrat.

Fuhr die «Titanic» um das «Blaue Band»? Sollte das grösste Passagierschiff der Welt auf seiner Jungfernfahrt den Preis für die schnellste Atlantik-Überquerung erringen?

Die «Titanic» war nicht für hohe Geschwindigkeiten, sondern für grösstmöglichen Luxus konstruiert worden. Sogar die Kabinen der 3. Klasse waren aussergewöhnlich bequem. Und die Schiffe der Konkurrenzreederei Cunard waren um einiges leistungsfähiger als die «Titanic». Tatsache aber ist, dass sie zum Zeitpunkt der Unglücks mit der hohen Geschwindigkeit von rund 40 km/h unterwegs war, obwohl die Gefahr von Eisbergen bekannt war. Der Grund dafür ist bis heute unklar. Eine Überlebende behauptete, Bruce Ismay, der Vorsitzende der White Star Line, habe Kapitän Edward Smith dazu aufgefordert, um früher als erwartet in New York anzukommen und für einen werbeträchtigen Überraschungseffekt zu sorgen.

Waren zu wenig Rettungsboote an Bord?

Ja und Nein. Die «Titanic» verfügte über 20 Rettungsboote, die rund 1100 Menschen aufnehmen konnten. Das war mehr, als die damaligen Vorschriften verlangten. Und doch war es viel zu wenig, denn an Bord befanden sich doppelt so viele Leute. Alexander Carlisle, einer der Konstrukteure des Ozeandampfers, hatte für 64 Rettungsboote plädiert, jedoch bei der Reederei kein Gehör gefunden. Am Ende verlief die Evakuierung dermassen chaotisch, dass nicht einmal die volle Kapazität der vorhandenen Rettungsboote ausgeschöpft wurde.

Wurde die «Titanic» vom Eisberg auf einer Länge von 90 Metern aufgeschlitzt?

So steht es im Untersuchungsbericht von 1912, und so wurde es in Verfilmungen der Katastrophe dargestellt. Dabei ist diese Version aus zwei Gründen unmöglich: Mit einem 90 Meter langen Riss wäre das Schiff viel schneller gesunken. Bereits damals berechnete ein Experte, dass die gesamte Leckgrösse nur etwa einen Quadratmeter betragen konnte. Der Fund des Wracks bestätigte dies: Die «Titanic» war zwar auf einer Länge von 90 Metern mit dem Eisberg kollidiert, doch dabei entstanden «nur» mehrere kleine Risse. Diese genügten jedoch, um fünf Abteile unter Wasser zu setzen und das Schiff zum Sinken zu bringen. Ausserdem widerspricht sie den Gesetzen der Physik, denn Eis ist weicher als Stahl. Man versuche einmal, eine Autotüre mit einem Eiszapfen aufzuschlitzen.

Spielte das Bordorchester bis zum bitteren Ende?

Ja, obwohl die Musiker keine Angestellten der White Star Line und damit auch nicht verpflichtet waren, bis zuletzt an Bord auszuharren. Sie spielten der Legende nach, um so lange wie möglich eine Panik zu vermeiden. Umstritten ist jedoch, ob als letztes Stück der christliche Choral «Näher, mein Gott, zu dir» ertönte, wie es in mindestens vier «Titanic»-Filmen dargestellt wird. Die Berichte der Überlebenden widersprechen sich.

War «Titanic»-Reeder Bruce Ismay ein Feigling?

Er war der Francesco Schettino der «Titanic»: Joseph Bruce Ismay, der Vorsitzende der White Star Line, wurde zum Oberschurken erklärt. Er soll nicht nur Kapitän Smith dazu gedrängt haben, mit zu hoher Geschwindigkeit zu fahren (siehe oben), sondern sich auch bei der Evakuierung in eines der letzten Rettungsboote geflüchtet haben, das zudem nicht voll besetzt war. Ismay sah sich heftigen Angriffen ausgesetzt, er wurde als «einer der grössten Feiglinge der Geschichte» beschimpft und als «Brute» (Unmensch) Ismay bezeichnet. Es kursierte sogar das Gerücht, er habe sich als Frau verkleidet, um gerettet zu werden, was nicht zutrifft. Auch gab es Aussagen, wonach er sich bis zuletzt um die Rettung von Passagieren bemüht hatte. Es nützte nichts, bis zu seinem Tod 1937 blieb Bruce Ismay ein Geächteter. In allen «Titanic»-Filmen wird er als Feigling porträtiert.

Ist die «Titanic» gar nie gesunken?

Die populärste Verschwörungstheorie besagt, dass am 15. April 1912 nicht die «Titanic» untergegangen war, sondern ihr ein Jahr zuvor in Dienst gestelltes Schwesterschiff «Olympic». Sie war im September 1911 bei einer Kollision mit dem Kreuzer «Hawke» schwer beschädigt worden, doch die Versicherung wollte den Schaden nicht bezahlen. Die in finanziellen Schwierigkeiten steckende White Star Line und ihr Besitzer, der US-Banker John Pierpont Morgan, hätten darauf beschlossen, die «Olympic» notdürftig zu reparieren und ihren Namen mit jenem der in Bau befindlichen «Titanic» zu vertauschen, behaupteten die Autoren Robin Gardiner und Dan van der Vat 1996 im Buch «Die Titanic-Verschwörung». Demnach sei die getarnte «Olympic» absichtlich mit dem Eisberg kollidiert, um die Versicherungssumme für die «Titanic» zu kassieren. Die Passagiere hätten eigentlich von anderen Schiffen gerettet werden sollen, so die Theorie. Eine genaue Untersuchung des Wracks ergab jedoch, dass alle Bauteile die Nummer 401 aufwiesen – jene der «Titanic». Die «Olympic» hatte die Baunummer 400. Der Franzose Paul-Henri Nargeolet, der mehrere Tauchexpeditionen zum Schiffswrack leitete, ist sich sicher: «Die These der vertauschten Schiffe ist komplett falsch. Was ich auf dem Meeresgrund gesehen habe, ist die ‹Titanic›.»

Versenkte ein Pharaonen-Fluch das Schiff?

Die bizarrste, aber auch amüsanteste Verschwörungstheorie besagt, dass sich die Mumie der altägyptischen Prinzessin Amen-Ra an Bord der «Titanic» befand. Seit ihrem Fund soll sie Tod und Unglück über viele Menschen gebracht und auch die «Titanic» versenkt haben. Allerdings gibt es keinen Beleg für eine Mumie auf dem Schiff. Und der angebliche Fluch der Amen-Ra war ein Phantasieprodukt des britischen Autors und Spiritualisten William Stead. Er war tatsächlich auf der «Titanic» und ging mit dem Schiff unter.

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