Spannungen und Missverständnisse - «Viele sind enttäuscht» – Gastfamilien schicken Geflüchtete wieder weg

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Spannungen und Missverständnisse«Viele sind enttäuscht» – Gastfamilien schicken Geflüchtete wieder weg

Nach der Solidarität folgt bei vielen Helfern die Ernüchterung. 1800 Wohnungsangebote wurden zurückgezogen. Wegen Lärm, Problemen mit der Sauberkeit oder Sprachbarrieren wollen viele die Geflüchteten wieder loswerden – oder diese gehen lieber in ein Asylzentrum. 

22’000 Flüchtlinge aus der Ukraine befinden sich in der Schweiz, täglich kommen 1000 Personen hinzu. Ein grosser Teil von ihnen – über 5000 Personen – kommt in privaten Unterkünften unter. Doch viele kommen jetzt offenbar an den Anschlag, da sich das Zusammenleben schwieriger gestaltet als gedacht.
 «Bei uns sind 1800 von insgesamt 30’000 Gastgebern ausgestiegen», sagt etwa Christian Messikommer vom Verein Campax. «Die Solidarität ist nach wie vor ungebrochen, aber wenn die Realität einsetzt, wird es vielen unwohl.» 
«Während der überwiegende Grossteil der Geflüchteten sehr dankbar ist für die Unterstützung, gibt es in Einzelfällen immer Menschen, die unzufrieden sind und das Gefühl haben, sie müssten mehr bekommen, als sie erhalten», sagt Ursula Baum, Geschäftsleiterin des Kompetenzzentrums für Freiwilligenarbeit des Kantons Basel.
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22’000 Flüchtlinge aus der Ukraine befinden sich in der Schweiz, täglich kommen 1000 Personen hinzu. Ein grosser Teil von ihnen – über 5000 Personen – kommt in privaten Unterkünften unter. Doch viele kommen jetzt offenbar an den Anschlag, da sich das Zusammenleben schwieriger gestaltet als gedacht.

20 Min/Helena Müller

Darum gehts

22’000 Flüchtlinge aus der Ukraine befinden sich in der Schweiz, täglich kommen 1000 Personen hinzu. Ein grosser Teil von ihnen – über 5000 Personen – kommt in privaten Unterkünften unter. Bei Kollegen, Freunden oder Helferinnen und Helfern, die ihr Haus oder ihre Wohnung zur Verfügung gestellt haben.

Doch viele kommen jetzt offenbar an den Anschlag, da sich das Zusammenleben schwieriger gestaltet als gedacht. «Bei uns sind bei Nachfragen 1800 von 30’000 potenziellen Gastgebern ausgestiegen», sagt etwa Christian Messikommer vom Verein Campax. «Die Solidarität ist nach wie vor ungebrochen, aber wenn die Realität einsetzt, wird es vielen unwohl.»

Spannungen und Missverständnisse seien an der Tagesordnung: «Die Geflüchteten sitzen nicht nur in ihrem Kämmerchen und sind den Rest ihres Lebens dankbar», sagt Messikommer. Im Gegenteil: «Sie sind oft traurig und stehen im Dauerstress , da sie im Ungewissen sind, ausserdem haben viele ein genauso aktives Sozialleben wie ihre Gastgeber.» Was die allermeisten unterschätzten, sei die Verständigung: «Auch mit einem Übersetzer-Tablet ist man irgendwann am Anschlag», sagt Messikommer. «Wenn du jemandem in einer Fremdsprache erklären musst, wie du dein WC nach Gebrauch antreffen möchtest, ist das nicht immer einfach.»

«Geflüchtete sind enttäuscht, wenn sie auf der Couch unterkommen müssen»

Wie in einer WG unterschieden sich die Gewohnheiten der Leute, bei der sozialen Interaktion, der Hygiene oder dem Essverhalten, so Messikommer. «Daher ist es völlig normal, dass es zu Konflikten kommt.» Die ukrainische Historikerin Olha Martynyuk, die derzeit in der Schweiz lebt, sieht den Grund dafür in falschen Erwartungshaltungen  – sowohl von Geflüchteten als auch Gastgebern: «Die Flüchtlinge erwarten nach der Flucht aus einem brutalen Krieg kein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung. Aber aus dem eigenen Zuhause flüchten und dann in einer kleinen Kammer oder auf der Couch unterkommen müssen, ist nicht angenehm.»

Gleichzeitig fehle in diesen Fällen beiden Parteien die Privatsphäre, was Probleme provozieren könnte. «Ein eigener Raum, um sich zurückziehen zu können, ist daher sehr wichtig», so Martynyuk. Ausserdem müsse stärker darauf geachtet werden, dass die zugewiesenen Personen auch tatsächlich zum Lebensstil der Gastgebenden passen würden. «Eine ältere Frau, die ihre Ruhe braucht, bringt man besser bei älteren Menschen mit denselben Interessen unter, als in einem Haus voller Kinder. Dort schickt man lieber auch Familien mit Kindern hin», so Martynyuk.

Konkret berge auch das Thema Ernährung besonders die Gefahr von Missverständnissen. «Ukrainische Geflüchtete können andere Essgewohnheiten haben als ihre Gastgeber», sagt Olha Martynyuk. Diese unterschiedlichen Lebensstile könnten auch finanzielle Schwierigkeiten mit sich ziehen. «Häufig reicht die finanzielle Unterstützung des Bundes nicht aus, um sich teures Essen zu leisten und alle weiteren monatlichen Kosten der Geflüchteten zu decken.»

60 Personen alleine im Kanton Luzern umplatziert

Dass ukrainische Schutzsuchende umverteilt werden müssen, bestätigen auch mehrere Kantone. Im Kanton Luzern sind es bisher 60 Personen. Andere Kantone nennen keine Zahlen, aber hochgerechnet aufs ganze Land dürften es wohl Hunderte in derselben Situation sein.

Silvia Bolliger, Leiterin der Luzerner Dienststelle für Asyl- und Flüchtlingswesen, sieht Probleme auf beiden Seiten. «Es häufen sich die Meldungen von Gastfamilien und Privatpersonen, die aufgenommene Flüchtende nicht weiter beherbergen möchten», sagt Bolliger. Demgegenüber meldeten sich aber auch Geflüchtete, die sich in ihrer privaten Unterbringung nicht mehr wohlfühlten und einer kantonalen Unterkunft zugewiesen werden möchten.

Auch Ursula Baum, Geschäftsleiterin des Kompetenzzentrums für Freiwilligenarbeit des Kantons Basel, sind Probleme bei privaten Unterbringungen bekannt. «Zu Spannungen kommt es vor allem dann, wenn die Rahmenbedingungen nicht bei beiden Seiten geklärt sind», sagt Baum. «Im privaten Kontext kann es etwa dazu kommen, dass man schnell helfen will und dann unklar ist, wie es weiter gehen soll oder dass man zu viele Personen bei sich aufgenommen hat.»  Auch Gastgebende, welche sich uneingeschränkte Dankbarkeit wünschten, könnten enttäuscht werden. «Während der überwiegende Grossteil der Geflüchteten sehr dankbar ist für die Unterstützung, gibt es in Einzelfällen immer Menschen, die unzufrieden sind und das Gefühl haben, sie müssten mehr bekommen, als sie erhalten», sagt Baum. «Dass dies den Gastgeber frustrieren kann, ist vollkommen nachvollziehbar.»

Der Trägerverein Integrationsprojekte St. Gallen (TISG) sieht das primäre Problem in der Art der Zuweisung von Geflüchteten. «Wenn sich Private zuerst bei den Gemeinden melden, bevor sie ukrainische Flüchtende aufnehmen, kommt es selten zu Problemen. Nehmen Private jedoch direkt Flüchtende bei sich auf, ohne sich mit der Gemeinde abzusprechen, kommen Schwierigkeiten häufiger vor.» 

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