Unvorstellbares durchgemacht – Nach Syrien verschleppt – Schweiz bringt IS-Kinder in Geheimaktion heim

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Unvorstellbares durchgemachtNach Syrien verschleppt – Schweiz bringt IS-Kinder in Geheimaktion heim

Die Mutter brachte Nalia (9)* und Malika (15)* von Genf nach Syrien, um unter dem «Islamischen Staat» zu leben. Ihr wurde das Schweizer Bürgerrecht entzogen. Ihre beiden Töchter aber sind jetzt auf dem Weg zurück in die Heimat.

Auf dem Weg in die Freiheit: Die beiden Töchter verabschieden sich am syrisch-irakischen Grenzübergang.
Malika* wurde mit zehn Jahren von Genf zum «Islamischen Staat» gebracht, jetzt kehrt sie mit ihrer jüngeren Schwester zurück.
Die Mutter Shalila F.* beim Besuch von 20 Minuten im nordsyrischen Camp Roj mit ihrer jüngsten, in Syrien geborenen Tochter. Die Schweiz hatte der Französisch-Tunesierin, die auch den Schweizer Pass besass, …
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Auf dem Weg in die Freiheit: Die beiden Töchter verabschieden sich am syrisch-irakischen Grenzübergang.

ZVG

Die Schweiz hat zwei Mädchen aus einem Internierungscamp in Nordsyrien zurück in die Schweiz geholt. Das zeigen Recherchen von 20 Minuten, die das EDA am Montag bestätigt hat. Malika (15)* und Nalia (9)* sind auf dem Weg in ihre Genfer Heimat, aus der sie ihre Mutter vor fünf Jahren gerissen hatte, um unter dem Terrorregime so genannten «Islamischen Staat» in Syrien zu leben.

Shalila F. (32)* hatte die Kinder ohne das Einverständnis der beiden Väter in den Krieg mitgenommen. Mittlerweile wurde der französisch-tunesischen Bürgerin, die auch den Schweizer Pass besass, das Schweizer Bürgerrecht entzogen, was seit 1947 nicht mehr vorgekommen war.

Mädchen machten Unvorstellbares durch

Die beiden in Genf wohnhaften Väter hatten bereits 2017 das alleinige Sorgerecht für die Mädchen erhalten. Seither kämpften sie mit Anwälten für die Rückkehr ihrer Töchter. Auch die Genfer Behörden, das Staatssekretariat für Migration SEM und das Aussendepartement EDA hatten sich für die Rückkehr der Mädchen eingesetzt.

Die Zusammenarbeit mit den nordsyrischen Kurden-Behörden lief hinter den Kulissen ab. Die kurdische Selbstverwaltung in Nordostsyrien ist nicht als Staat anerkannt, offizielle Verhandlungen sind daher ausgeschlossen.

20 Minuten hatte 2019 als einziges Schweizer Medium mit Shalila F. im Camp Roj gesprochen. Ihre Tochter Malika ging damals an Krücken. Das Mädchen war durch Granatsplitter verletzt worden, als die letzte IS-Hochburg Baghuz fiel. Was sie und ihre Schwester in den letzten Monaten unter der IS-Herrschaft durchmachten, ist für uns in der Schweiz kaum vorstellbar (Vor-Ort-Eindrücke könnt ihr hier nachlesen).

«Keine Mutter lässt ihre Kinder zurück»

Shalila F., die in Genf eine Handelslehre abgeschlossen hatte, machte deutlich, dass sie nicht mehr in die Schweiz zurückkehren wolle: «Ich will nicht in ein Land, in dem ich wie in der Migros in Genf wegen meines Hijabs angespuckt werde.»

Sie akzeptierte so auch den Entzug des Bürgerrechts und liess die Rekursfrist ungenutzt verstreichen. Dass die Kinder zu ihren Vätern in die Schweiz zurückkehren können, lehnte sie anfangs ab. Im Gespräch mit 20 Minuten erklärte sie, keine Mutter lasse ihre Kinder zurück.

Gesinnungswandel

Mit dem Widerstand der Mutter kämpften auch die Schweizer Behörden: «Die Rückführung der Kinder scheiterte bislang vor allem daran, dass die Mütter nicht bereit waren, ihre Kinder ohne sie ausreisen zu lassen», teilten sie 2019 mit.

Zuletzt stimmte Shalila der Rückkehr ihrer zwei Töchter in die Heimat zu, Der Grund für ihren Gesinnungswandel bleibt unklar. Ihre älteste Tochter Malika ist 15 Jahre alt geworden – volljährig unter kurdischem Gesetz. Informierten Kreisen zufolge waren die Mädchen im Camp immer häufiger im Kontakt zu ihren Vätern in Genf, was zunehmend den Wunsch weckte, zu ihnen in die Schweiz zurückzukehren.

Heikle Operation

Mit der Aberkennung von Mutter Shalila’s Schweizer Bürgerrecht – der Entzug war im Februar 2020 rechtskräftig geworden – war nach über drei Jahren endgültig Bewegung in die Sache gekommen. Dabei war die Operation bis zum Schluss von vielen Unsicherheiten geprägt. Allein das Abholen der Kinder aus Nordsyrien war diplomatisch heikel, da die Schweiz weder in Syrien noch im angrenzenden Irak eine Vertretung unterhält.

Während ihre beiden Töchter auf dem Weg in die Schweiz sind, bleibt Shalila F. mit der dritten Tochter, Shamina (4) im nordsyrischen Internierungslager zurück. Diese wurde in Syrien geboren, Kind eines gefallenen tunesischen IS-Kämpfers, der in Anschlagspläne im Ausland involviert gewesen sein soll.

Fünf minderjährige Schweizer Kinder in Syrien

In Camp Roj sitzt die Lausannerin Selina* mit ihrer in Syrien geborenen Tochter (hier das Interview). Sie war mit ihrem Lausanner Mann Aziz* 2015 zum «Islamischen Staat» gereist. Der mutmassliche IS-Kämpfer sitzt seit Ende 2018 in Haft in Nordsyrien (dazu mehr hier). Seine Frau will ihn offenbar nicht zurücklassen. Zumindest bestätigt das EDA, dass keine weiteren Rückholaktionen von Schweizer Jihad-Reisenden vorgesehen sind.

Laut Nachrichtendienst des Bundes NDB befinden sich insgesamt noch fünf minderjährige Kinder mit mindestens einem Schweizer Elternteil im einstigen Herrschaftsgebiet des IS. Obwohl der Bundesrat es weiterhin ablehnt, erwachsene Jihadreisende zurückzuführen, prüft er dies bei Kindern von Fall zu Fall. Ohne Einverständnis der Mutter geben die kurdischen Autonomiebehörden ohnehin kein grünes Licht für eine Rückholaktion.

*Namen der Redaktion bekannt und abgeändert

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