Terror und SchariaVon wegen «Taliban 2.0» – die leeren Worte der Radikalislamisten in Afghanistan
Die Taliban sprachen von einer gemässigten Regierung, als der Westen vor einem Jahr aus Afghanistan abzog. Doch jetzt regieren Terror und Scharia.

Mitglieder der Taliban vor der Wand der ehemaligen US-Botschaft in Kabul im August 2022.
REUTERSDarum gehts
Die Taliban haben Frauen in Afghanistan untersagt, für NGOs zu arbeiten – mit Ausnahmen.
Kurz zuvor verboten sie, dass Frauen und Mädchen zur Uni oder zur Schule gehen dürfen.
Eine neue Generation hat die Steinzeit-Taliban von 2001 ersetzt – aber das will nichts heissen.
Die Zukunftsprognosen sind ernüchternd, auch betreffend der Terrorgefahr.

Kommandeur Donahue von der 82. US-Luftlandedivision besteigt das C17-Transportflugzeug.
via REUTERSAm 30. August 2021 verliess Christopher Donahue, Kommandeur der 82. US-Luftlandedivision, Afghanistan als letzter amerikanischer Soldat und die radikalislamistischen Taliban übernahmen nach 20 Jahren wieder die Macht im Land. Sie versprachen, nicht mehr zur Schreckensherrschaft der Jahre 1996 bis 2001 zurückzukehren.
Nach einem Jahr zeigt sich aber: Die Scharia-Gesetze werden gnadenlos umgesetzt und von den zugesicherten «Taliban 2.0» ist nichts übrig geblieben. Einige Beispiele.

Taliban-Führer am 15. August 2022 an der Zeremonie zum ersten Jahrestag der Übernahme von Kabul.
REUTERSRecht auf Bildung?
Frauen und Mädchen sicherte die Taliban-Regierung das Recht auf Bildung zu – solange das im Einklang mit der Scharia stehe. Das tut es offenbar nicht. Erst letzte Woche wurde ein Hochschulverbot für Frauen im Land erlassen.
Dabei hatten noch vor weniger als drei Monaten Tausende Frauen und Mädchen im ganzen Land Aufnahmetests für Universitäten absolviert, um ins Lehramt zu kommen oder Medizin zu studieren.
Das Verbot sei notwendig, damit sich die Geschlechter an den Universitäten des Landes nicht mischten, so der Bildungsminister. Zudem verletzten einige Lehrinhalte islamische Grundsätze.

Noch im September zwang die Taliban-Regierung in Kabul Studentinnen zur Vollverschleierung in den Hörsälen, ansonsten durften diese an den Vorlesungen nicht teilnehmen. Jetzt dürfen die Frauen und Mädchen gar nicht mehr studieren.
TwitterRecht auf Arbeit?
Diesen Montag folgte bereits ein weiteres Verbot: Frauen dürfen nicht mehr für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) arbeiten. Es habe «ernsthafte Beschwerden» über das Nichttragen des Hidschabs gegeben, so die Begründung.
Mehrere ausländische Hilfsorganisationen haben deswegen ihre Tätigkeit in Afghanistan vorerst ausgesetzt, weil sie nicht mehr operieren könnten. So würde ein solches Verbot die Versorgung mit humanitärer Hilfe im bettelarmen Afghanistan zusammenbrechen lassen: Über 28 Millionen Afghanen sind von humanitärer Hilfe abhängig. Es würde «ein Todesurteil auf Raten für das asiatische Land darstellen», schreibt die spanische El-Pais.
Offenbar sind aber mehrere Ausnahmen vorgesehen. Weibliche Angestellte der Vereinten Nationen und ausländische Angestellte von NGOs seien von dem Verbot ausgenommen – ebenso alle Frauen, die im Gesundheitsbereich arbeiteten. So steht es zumindest in einem Protokoll des Wirtschaftsministeriums der Taliban.

Eine Bettlerin mit Kind im Januar 2022 in Kabul.
REUTERS«Gemässigte» Scharia?
Heute müssen sich Frauen von Kopf bis Fuss verschleiern und sind von zahlreichen Bereichen des öffentlichen Lebens weitgehend ausgeschlossen. Sie dürfen ohne Begleitung eines männlichen Familienangehörigen nicht an ihren Arbeitsplatz fahren oder reisen.
In Kabul ist Afghaninnen seit einigen Monaten der Besuch von öffentlichen Parks und Fitnessstudios untersagt.
Trotz internationaler Kritik – auch von muslimischen Staaten wie Saudi-Arabien, Katar und der Türkei – halten die Taliban an ihrem Kurs gegen Frauen im Land fest.
Allgemein hat sich die Lage der Menschenrechte darstisch verschlechtert. «Die Taliban lassen ihre Maske der angeblichen Mässigung fallen und offenbaren ihr wahres Gesicht», schreibt Pro Asyl. «Menschen werden ausgepeitscht, eine erste öffentliche Hinrichtung ist bekannt geworden. Steinigungen und Amputationen von Gliedmassen gelten mittlerweile als zulässige Bestrafung.»
Beobachter werfen den Taliban zudem gezielte Racheaktionen und Tötungen unbequemer Kritiker vor.
«Dieser Staat scheint sich nach innen mehr und mehr zu einem Terrorstaat gegen die eigene Bevölkerung zu entwickeln», so der Südasien-Korrespondent der ARD. «Wer nicht pariert, der wird hart bestraft. Die Einschränkungen werden von Monat zu Monat mehr und gelten vor allem für Frauen.»

Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawahiri wurde bei einem CIA-Drohnenangriff in Kabul getötet.
via REUTERSAbkehr von al-Qaida?
Die Taliban haben sich verpflichtet, sich von Terrororganisationen wie al-Qaida zu distanzieren. Unter ihnen sollten Terroristen Afghanistan nicht länger als Rückzugsraum nutzen können. Dies war eine Hauptsorge des Westens und Afghanistans Nachbarstaaten Iran, Pakistan, China und Russlands. Zu Recht. Verbindungen zur Al-Qaida bestehen nach wie vor.
So dürfte es kein Zufall sein, dass al-Qaida-Chef Ayman al-Zawahiri im Herzen des gehobenen Diplomatenviertels von Kabul wohnte – in einem Haus des hochrangigen Beraters des Innenministers des Regimes.
Zudem verübt der in Konkurrenz zu den Taliban stehende IS Khorasan, der besonders gewaltbereite Ableger des Islamischen Staates (IS), weiter tödliche Angriffe und Selbstmordanschläge. Die UN Mission in Afghanistan zählte zwischen August 2021 und Juli 2022 700 Todesopfer aus Anschlägen, die dem IS Khorasan zugeschrieben werden.
Auch der prominente religiöse Führer und Taliban-Freund Sheikh Rahimullah Haqqani wurde bei einem Selbstmordattentat getötet – der Sprengsatz war im künstlichen Bein des Attentäters versteckt. Und erst diesen Montag fiel ein hoher Sicherheitsbeamter der Taliban einem Attentat des IS Kohrasan zum Opfer.

Taliban-Anhänger am ersten Jahrestag des Falls von Kabul mit der Flagge des Islamischen Emirats Afghanistan.
REUTERSWirtschaftlicher Aufschwung?
Zwei Drittel der Bevölkerung haben laut einem Uno-Bericht Probleme, Essen zu kaufen. 80 Prozent der Afghaninnen und Afghanen leben unter der Armutsgrenze, Millionen sind auf Unterstützung und Lebensmittelpakete angewiesen.
Die Taliban verschlimmern die Misere mit ihren Verboten. Allein die Arbeitsverbote für Frauen kosten die afghanische Wirtschaft jährlich bis zu einer Milliarde Dollar – fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts. Und wenn Millionen Mädchen im Teenageralter keine weiterführende Schulbildung erhalten, bedeutet dies laut Uno-Entwicklungsprogramm jährlich mindestens 500 Millionen Dollar an verlorenen Einnahmen für das Land.
Unter dem wirtschaftlichen Druck verkaufen Menschen ihre Organe und verheiraten Familien ihre Kinder.

Kabul am 22. Januar 2022.
REUTERSErnüchternde Zukunftsprognose
Die Steinzeitislamisten, die bis 2001 an der Macht waren, wurden von einer neuen Generation der Taliban abgelöst. Diese seien indes «tief gespalten in Bezug auf Bildung und die Strenge, mit der religiöse Pflichten zu befolgen sind», wie Ahmed Rashid in «Taliban. Die Macht der afghanischen Gotteskrieger» schreibt.
Auch diese Taliban seien nicht gewillt, sich zu mässigen, sodass der Autor und angesehene Afghanistan-Kenner dem Land weitere Jahre voller Unruhen voraussagt. Er befürchtet, dass das Land wieder in eine Art schwarzes Loch versinken wird – ein Zustand wie vor den Anschlägen auf die USA am 11. September 2001.
So würden die Taliban zusammen mit ihren Brüdern im Geiste – der Terrororganisation Al-Qaida – eine weltweite Bedrohung bleiben. Um das zu ändern, müssten die muslimischen Regierungen und der Westen den Extremismus entschlossener bekämpfen und gleichzeitig die dringendsten Probleme in der Region angehen: Armut, Arbeitslosigkeit, fehlende Bildung.
Seitdem die Taliban die Macht vor einem Jahr übernommen haben, stiegen die Anträge der Menschen aus Afghanistan, die in der EU Asyl beantragten. Auch in der Schweiz stammen die meisten Asylgesuche dieses Jahr aus Afghanistan.

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