Um Anzeige gegen Beleidigung einzureichen bezahlst du bis zu 3000 Fr.

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Vorschuss verlangtAnzeige kostet neu viel Geld – freie Bahn für Mobber?

Neu können Staatsanwaltschaften schweizweit einen Vorschuss verlangen für Anzeigen wegen Beleidigung oder Ehrverletzung. Ein News-Scout musste 1500 Franken bezahlen und spricht von Klassen-Justiz, auch eine Juristin kritisiert das scharf. 

Mobbing und Hass, sogenannte «Hate-Speech», sind auf Social Media allgegenwärtig. Dabei müssen Menschen tief verletzende Kommentare über sich ergehen lassen. Schweizer Influencer erzählen, wie sie damit umgehen.

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Darum gehts

  • Will man jemanden wegen Beleidigung anzeigen, kann die Staatsanwaltschaft seit Jahresbeginn einen Vorschuss verlangen.

  • News-Scout O.L. musste daher 1500 Franken zahlen.

  • Mit der Gesetzesänderung will der Bund der Anzeigenflut entgegenwirken.

  • Laut der Staatsanwaltschaft Graubünden werde bis zu 3000 Franken von den Klägern verlangt.

  • Der Verband der Demokratischen Juristen und Juristinnen Schweiz kritisiert die neue Regelung.

Der 35-jährige O.L.* erhielt kürzlich ein Hass-E-Mail. Darin habe man ihn heftig beleidigt und ihm gewünscht, dass er von einem Tier getötet wird. Empört reichte er eine Anzeige wegen Beschimpfung und Ehrverletzung ein. «Daraufhin erhielt ich von der Bündner Staatsanwaltschaft eine briefliche Aufforderung, einen Vorschuss von 1500 Franken zu bezahlen. Sonst werde meine Anzeige zurückgezogen.»

Der 35-Jährige war überrascht. In der Vorschussforderung sieht er die Gefahr einer rechtliche Ungleichheit: «Ich denke, viele Opfer von Beleidigungen können sich einen solchen Vorschuss nicht leisten.»

Staatsanwaltschaft wird überflutet mit Anzeigen wegen Beleidigung

Der Grund für den Kostenvorschuss ist eine Änderung der Strafprozessordnung, die Anfang Jahr in Kraft getreten ist: Neu können Staatsanwaltschaften schweizweit bei Ehrverletzungsdelikten die Person, die Anzeige erstattet, dazu auffordern, «innert einer Frist für allfällige Kosten und Entschädigungen eine Sicherheit zu leisten». Gehe diese Zahlung nicht fristgerecht ein, gilt der Strafantrag als zurückgezogen.

Mit der Regeländerung in der Strafprozessordnung will der Bund der Anzeigenflut entgegenwirken: «Das klare Ziel ist es, Anzeigeerstatter in Bagatellfällen abzuschrecken», sagt Rechtsanwalt Stephan Schlegel.

Neueste Erhebungen des Bundesamts für Statistik zeigen, dass sich die eingereichten Anzeigen seit 2009 mehr als verdoppelt haben. Der Bundesrat sprach sich 2019 für die Änderung der Strafprozessordnung aus. Der Grund: «Bei solchen Delikten ist der Antrieb für eine Anzeige oftmals eher im Wunsch nach persönlicher Vergeltung als in der Tatsache einer Rechtsgutverletzung.»

Würde dich eine Vorschussforderung abschrecken eine Anzeige einzureichen?

«Meistens werde zwischen 1000 und 3000 Franken verlangt»

Laut der Staatsanwaltschaft Graubünden wird bei Ehrverletzungsdelikten in der Regel ein Vorschuss vom Anzeigeerstatter verlangt. «Bei schwerwiegenden Ehrverletzungsvorwürfen kann aber auf einen Vorschuss verzichtet werden», sagt Mediensprecher Bruno Ulmi. Welche als solche angesehen werden, hänge auch von der Art der Verbreitung ab oder davon, gegenüber wie vielen Personen der ehrverletzende Inhalt geäussert worden sei.

«Meistens wird zwischen 1000 und 3000 Franken verlangt, diese Spanne kann aber im Einzelfall auch unter- oder überschritten werden», sagt Ulmi. Bei der Berechnung der Vorschusshöhe werde die Bedeutung der Sache, die finanzielle Situation der antragstellenden Person sowie der Umstand, ob die beschuldigte Person anwaltlich vertreten ist, berücksichtigt.

Der 35-jährige O.L. ist überrascht. Nachdem er Anklage wegen Beleidigung einreichte, bekam er von der Staatsanwaltschaft Graubünden eine Vorschussforderung von 1500 Franken.
Der Grund für den Kostenvorschuss ist eine Anpassung der Strafprozessordnung, die Anfang Jahr in Kraft getreten ist. Neu kann die Staatsanwaltschaft von Antragsstellern einen Vorschuss verlangen.
Leandra Columberg vom Verband der Demokratischen Juristen ist gegen die Gesetzesänderung: «Wenn die Staatsanwaltschaften nicht die Ressourcen für die Bearbeitung der eingehenden Anzeigen haben, sollen sie die eigenen Strukturen und Prioritäten hinterfragen. Der Zugang zum Recht darf nicht vom Portemonnaie abhängig gemacht werden.»
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Der 35-jährige O.L. ist überrascht. Nachdem er Anklage wegen Beleidigung einreichte, bekam er von der Staatsanwaltschaft Graubünden eine Vorschussforderung von 1500 Franken.

Screenshot Anklageschrift O.L

«Staatsanwaltschaft sollte besser ihre Strukturen hinterfragen»

Der Verband der Demokratischen Juristen und Juristinnen Schweiz spricht sich gegen die neue Regelung aus. «Wenn die Staatsanwaltschaften nicht die Ressourcen für die Bearbeitung der eingehenden Anzeigen haben, sollen sie die eigenen Strukturen und Prioritäten hinterfragen. Der Zugang zum Recht darf nicht vom Portemonnaie abhängig gemacht werden», sagt Vorstandsmitglied Leandra Columberg. Ein Anzeigeverfahren sei für die Betroffenen von Hassnachrichten ohnehin schon ein erheblicher Aufwand: «Nun werden ihnen noch zusätzliche Hürden in den Weg gelegt.»

Zudem könne es nicht sein, dass die Staatsanwaltschaft willkürlich entscheiden könne, welche Anzeigen als Bagatellen erachtet werden und welche nicht.

«Sowas nennt man Klassenjustiz»

Weil O.L. damit rechnet, seinen Fall zu gewinnen und dementsprechend auch seine 1500 Franken zurückzukriegen, habe er den Vorschuss gezahlt: «Ich bin mir aber sicher, dass es zig andere Fälle gibt, die nicht so eindeutig sind und in denen sich die Kläger dann nicht trauen, an der Anzeige festzuhalten. Das kann es nicht sein. Sowas nennt man Klassenjustiz.»

*Name der Redaktion bekannt

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