Richter antwortenWarum kommen nicht alle Vergewaltiger in Haft?
Viele 20-Minuten-Leser können nicht verstehen, warum Schweizer Gerichte so selten harte Strafen aussprechen. Richter antworten auf die drängendsten Fragen.
Die Auswertung der Strafurteils- und Haftstrafenstatistik gibt in der Kommentarspalte zu reden. Laut den Zahlen sitzen Verbrecher in der Schweiz oft weit weniger lang hinter Gittern, als von Gesetzes wegen möglich wäre.
Während einige Leser die Urteile gutheissen und hervorheben, dass eine lange Haftstrafe nur der Resozialisierung schadet, sind andere Leser wütend auf die Richter, welche ihrer Meinung nach zu milde Urteile fällen. 20 Minuten hat Bundesstrafrichter Roy Garré und den St. Galler Kantonsrichter Jürg Diggelmann mit einigen Kommentaren konfrontiert. Lesen Sie unten, wie die Juristen die Urteile rechtfertigen.

Bundesstrafrichter Garré: «Die Diskussion um die gerechte Strafe ist so alt wie das Strafrecht selbst. Richter müssen laut Gesetz die Schwere der Tat, die Verwerflichkeit des Handelns, die Beweggründe und Ziele des Täters, sein Vorleben und die Wirkung der Strafe berücksichtigen. Wut und andere starke Emotionen haben bei der Strafzumessung hingegen keinen Platz. Wenn die Voraussetzungen erfüllt sind, werden aber auch in der Schweiz lebenslängliche Freiheitsstrafen und/oder Verwahrungen ausgesprochen.
Der Vorwurf der «Kuscheljustiz» ist vor allem darauf zurückführen, dass die Bevölkerung im Einzelfall nicht über sämtliche für die Beurteilung nötigen Informationen verfügt. Im Rahmen einer Studie wurden 290 Richterinnen und Richtern sowie einer repräsentative Bevölkerungsgruppe detaillierte Straffälle vorgelegt. Eine verfeinerte Analyse zeigte, dass sich eine Mehrheit der Bevölkerung mit milderen Strafen als den von den Richtern ausgesprochenen abfinden könnte.»

Bundesstrafrichter Garré: «Vergewaltigungen werden mit Freiheitsstrafen von einem Jahr bis zu 10 Jahren bestraft. Bei schweren Fällen ist eine Mindeststrafe von 3 Jahren vorgesehen. Die Bandbreite möglicher Sachverhalte ist sehr weit und reicht von der versuchten Vergewaltigung in einer längeren Beziehung bis zur äusserst brutalen, mehrfachen Gruppenvergewaltigung. Entsprechend dieser Vielfalt ist es grundsätzlich richtig, dass die Gerichte über ein erhebliches Ermessen verfügen.»
«In der Schweizer Strafjustiz werden im internationalen Vergleich generell relativ viele Strafen für Ersttäter bedingt ausgesprochen. Das kann man natürlich hinterfragen. Immerhin bleibt festzuhalten, dass wir trotzdem nicht über höhere Rückfallquoten verfügen. Im Gegenteil. »
Kantonsrichter Diggelmann: «Bedingte Strafen bei Vergewaltigungen betreffen oft auch Fälle an der Grenze zur Einwilligung, wo nicht von vornherein klar war, ob das Opfer nun Sex wollte oder nicht. Oder es ist beim Versuch einer Vergewaltigung geblieben, weil der Täter sein Ziel dann doch nicht weiterverfolgt hat. Entsprechend ist es richtig, das hier auch bedingte Strafen möglich sind.»

Kantonsrichter Diggelmann: «Vergeht sich jemand mit Gewalt an einem Kind, wird er zusätzlich noch wegen Nötigung oder Vergewaltigung verurteilt, die Strafe ist also bedeutend höher. In Fällen, in denen das Urteil nur sexuelle Handlungen mit einem Kind umfasst, liegt oftmals der Fall einer Jungendliebe vor, wo Sie beispielsweise 15 Jahre alt war und er 21, und sie einvernehmlich miteinander schliefen. Sobald das Kind jünger ist und Gewalt angewendet wurde, liegt Nötigung oder Vergewaltigung vor.»

Kantonsrichter Diggelmann: «Die Vorstellung, Gewalt- oder Sexualstraftäter würden freigelassen, weil es in den Strafanstalten zu wenig Platz hat, ist abwegig. Verurteilte haben nach dem Gesetz einen Anspruch darauf, nach zwei Dritteln der Strafdauer bedingt entlassen zu werden, wenn es ihr Verhalten im Strafvollzug rechtfertigt und nicht die Gefahr neuer Delikte besteht.»