150 Jahre ItalienWas Italos im Parlament über ihr Land denken
Zum 150. Geburtstag Italiens hat 20 Minuten Online mit Nationalräten gesprochen, die italienische Wurzeln haben. Sie finden, viel zu feiern gebe es nicht.
Sie sitzen für verschiedene Parteien im Parlament und sind selten einer Meinung, aber etwas verbindet sie alle: Toni Bortoluzzi (SVP/ZH), Ada Marra (SP/VD) und Filippo Leutenegger (FDP/ZH) haben italienische Wurzeln. Am stärksten spürt man diese bei der Sozialdemokratin Marra. Die 38-Jährige ist als Tochter süditalienischer Immigranten aus Lecce in Lausanne geboren worden und somit per Definition eine Seconda, auch wenn sie diesen Begriff überhaupt nicht mag: «Wenn schon sollten Migrantenkinder, die in der Schweiz zur Welt kommen, Primi sein.» Schliesslich seien sie die ersten Schweizer einer Familie.
Kein Problem mit dem Begriff hat Filippo Leutenegger, der über sich sagt: «Ich bin im Prinzip ein Secondo – einfach umgekehrt.» Der Sohn eines Schweizer Ehepaars wuchs in Rom unweit des Kolosseums auf. Noch heute erinnert er sich gerne daran, wie er als Bub mit dem Velo Ende der 50er-Jahre in der praktisch menschenleeren Ruine herumkurven konnte. «Nur sporadisch tauchten Katzen oder ein paar verirrte Touristen auf», schwärmt der Freisinnige. Später, nach Studium und Ausbildung in der Schweiz, berichtete Leutenegger mehrere Jahre als Korrespondent für das Schweizer Fernsehen aus Rom. «Dabei musste ich nach einer ersten Verklärung feststellen, dass vieles in Italien nicht so war, wie ich gedacht hatte.»
Während langer Zeit keine klare Vorstellung über das Leben im Dorf Farra d'Alpago hatte Toni Bortoluzzi. Von dort war sein Grossvater 1889 als Zehnjähriger zu Fuss in die Schweiz immigriert. Erst 1980 reiste der Zürcher erstmals nach Farra d'Alpago, ein 2840-Seelen-Ort am Fusse der Dolomiten in der Provinz Belluno. Gehört hatte er über seine italienische «Heimat» hingegen schon einiges. Als Folge der Kettenimmigration zogen immer mehr Dorfbewohner ins Zürcher Säuliamt. Der SVP-Politiker erinnert sich: «In den 60er-Jahren arbeitete rund ein Drittel der ursprünglichen Bevölkerung von Farra d'Alpago in der Umgebung von Affoltern am Albis.»
«Der Schiiss-Catenaccio regt mich auf»
Als Italiener fühlte sich der 64-jährige Bortoluzzi jedoch nie. Im Gegenteil: «Ich bin schon fast schweizerischer als ein Schweizer», findet er. Das Italienischste an Bortoluzzi ist daher wohl sein Name. Auch wenn er vereinzelte Klischees durchaus erfüllen würde. «Ich fahre tatsächlich einen Fiat, aber das ist eher Zufall.» Beim Fussball hegt der Captain des FC Nationalrat zwar Sympathien für die italienische Nationalmannschaft: «Allerdings rege ich mich immer wieder über den Schiiss-Catenaccio auf.» Trifft Italien auf die Schweiz, muss Bortoluzzi nicht lange überlegen, für wen sein Herz schlägt: «Natürlich für die Schweiz.»
Eine Frage, die Ada Marra allerdings in Teufelsküche bringt. Mit einem «no comment» versucht sie sich zu retten. Schliesslich sagt sie vielsagend: «Als Schweizer Parlamentarierin kann ich hier nicht offen sagen, was ich denke.» Das liege daran, dass man ihr als Kind immer nur die Spiele der Azzurri gezeigt habe. Seit sie sich jedoch als Politikerin für die Schweiz engagiere, und die Nati auch von Zeit zu Zeit erfolgreich spiele, drücke sie auch den «Rossocrociati» die Daumen.
«Ich spreche viel, laut und mit den Händen»
Marra, die ein nahezu perfektes Italienisch spricht, weiss um ihre typisch italienischen Eigenschaften: «Ich spreche viel, laut und mit den Händen.» Besonders italienisch fühlt sich die Westschweizerin im Kreis ihrer Familie. Trotzdem dominiere das Italienische in ihr nicht, sagt sie: «Ich bin 100 Prozent Schweizerin und 100 Prozent Italienerin.» Dann sind Sie zwei Personen? «Nein, aber Liebe lässt sich nicht teilen, nur multiplizieren.»
Auch in Filippo Leuteneggers Brust schlagen zwei Herzen, obwohl er de facto ja gar kein Italiener ist. Sobald der 58-Jährige bei seiner Mutter oder seinen Schwestern in Rom zu Besuch sei, fühle er sich sofort als Italiener, erzählt das Mitglied der Delegation für die Beziehungen zum Italienischen Parlament. Oder auch, wenn er mit einer seiner beiden Vespas unterwegs sei. «Ich habe eine rote und eine weisse Vespa, zur Trikolore fehlt nur noch eine grüne», scherzt Leutenegger.
«Einigung bis heute nicht geglückt»
Seine Miene verfinstert sich, wenn er auf die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage Italiens zu sprechen kommt: «Auch wenn die Italiener morgen feiern, geglückt ist die Einigung Italiens bis heute nicht.» Nach wie vor hätten der Süden und der Norden des Landes nichts miteinander zu tun. Zudem sei Italien nicht wirklich ein demokratisches Land. «Im Prinzip wird es immer noch nach den Strukturen der Fürstentümer des Mittelalters regiert.»
Düster ist auch das Bild, das die Sozialdemokratin Marra von ihrem Ursprungsland zeichnet: «Italien befindet sich derzeit auf einem politisch unmöglichen Weg, über Berlusconi will ich schon gar nicht sprechen.» Gleichzeitig sei sie stolz auf all die Menschen, die sie kenne, die trotz sämtlicher Widrigkeiten versuchten durchzukommen. Etwas finden, das Italien derzeit besser macht als die Schweiz, fällt ihr schwer. Italien sei völlig blockiert, während die Schweiz praktisch in sämtlichen Bereichen eine grosse Dynamik aufweise. «Ich wünschte mir zum 150-jährigen Jubiläum, Italien würde endlich erwachen», so Marra. Bortoluzzi und Leutenegger pflichten ihr bei. Für einmal sind alle drei einer Meinung.