Wer erhält im Ernstfall das letzte Bett auf der Intensivstation?

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Triage im SpitalWer erhält im Ernstfall das letzte Bett auf der Intensivstation?

Wer wird noch behandelt, wenn nur noch begrenzt Intensivpflegeplätze vorhanden sind? Für diese schwierige Entscheidung gibt es neue Richtlinien.

Die Sorge, dass die Intensivpflegeplätze nicht für alle reichen, beschäftigt das Gesundheitspersonal.
Noch sind in der Schweiz Plätze frei.
Die Gesellschaft für Intensivmedizin hat gemeinsam mit den Schweizerischen Akademien der Wissenschaften Richtlinien erlassen, wie im Ernstfall triagiert werden soll.
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Die Sorge, dass die Intensivpflegeplätze nicht für alle reichen, beschäftigt das Gesundheitspersonal.

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Darum gehts

  • Kommt es zu einer Überlastung der Intensivstationen, muss entschieden werden, wer beatmet wird und wer nicht.

  • Als Entscheidungshilfe für die Intensivstationen wurden Richtlinien erlassen, die kürzlich aktualisiert wurden.

  • Dabei gibt es zwei Grundsätze: Niemand soll diskriminiert werden, und oberste Priorität ist es, so viele Leben wie möglich zu retten.

  • Die Richtlinien kommen bei den Spitälern gut an – es gibt aber noch offene Fragen.

Die Befürchtung, dass aufgrund der Corona-Pandemie im Extremfall nicht mehr alle schwer erkrankten Personen beatmet werden können, hat die Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin (SGI) gemeinsam mit den Akademien der Wissenschaften Schweiz (SAMW) schon im März veranlasst, Richtlinien zu erlassen. Sie sollen den Spitälern und Kliniken als Grundlage dienen, um im Ernstfall nach medizinethischen Grundsätzen entscheiden zu können, wer an ein Beatmungsgerät angeschlossen wird.

«Die Anzahl Patienten, die in der Schweiz aufgrund einer Infektion mit dem neuen Coronavirus in einem Spital oder sogar auf einer Intensivstation behandelt werden, nimmt weiterhin stark zu», schreibt die SGI in ihrer Mitteilung vom Donnerstag. Deshalb wurden die Richtlinien aktualisiert. Wichtigste Änderung: Neu spielt die Gebrechlichkeit der Patienten eine Rolle.

«Alter, Demenz oder Behinderung sind keine Kriterien»

Franziska Egli, Kommunikationsverantwortliche der SAMW, erklärt: «Wie in der Vorgängerversion gilt, dass das Alter per se kein Triage-Kriterium darstellt. Dasselbe gilt auch für eine Behinderung oder eine Demenz.» Solche Faktoren könnten aber ein Indiz sein für einen schlechten körperlichen Allgemeinzustand einer Person. «Um dies besser bewerten zu können, berücksichtigen die Richtlinien neu die Fragilität.»

Als Hilfestellung dient eine neunstufige Skala: Sie beurteilt einen Menschen von 1 (kerngesund, robust, aktiv, energiegeladen und motiviert) bis 9 (nähert sich dem Ende des Lebens, die Lebenserwartung liegt bei weniger als sechs Monaten). Wenn Intensivstationen Rationierungsentscheide fällen müssten, etwa bei einem Patienten, der älter als 65 ist und sich in dieser Skala auf Stufe 7 oder höher befindet, würde auf die künstliche Beatmung verzichtet. Bei über 85-Jährigen gilt dies im Falle einer Ressourcenknappheit bereits für Stufe 6 der Fragilitätsskala. Auch verschiedene Krankheiten, etwa Tumore, die bereits Metastasen bilden, oder eine schwere Demenz, können Gründe dafür sein, dass jemand bei zu wenig Plätzen keine intensivmedizinische Behandlung erhält.

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«Ziel ist es, so viele Leben wie möglich zu retten»

«Derzeit sind wir zum Glück noch nicht in der Situation, dass triagiert werden muss», sagt Egli. Einen Triage-Entscheid fällen zu müssen, ist für alle Beteiligten überaus belastend. «Sollte es tatsächlich so weit kommen, muss das oberste Ziel sein, so viele Leben wie möglich zu retten.» Deshalb sei die kurzfristige Prognose der Patienten der entscheidende Faktor: «Wenn ein Patient eine bessere Prognose hat, die Viruserkrankung und die Intensivpflege zu überleben und danach noch eine hohe Lebensqualität zu geniessen, wird er einem Patienten mit weniger guter Prognose vorgezogen. Das Alter ist dabei ein Faktor, weil es einen grossen Einfluss auf die Prognose hat – aber nicht als Kriterium an sich», sagt Egli.

Egli betont, dass es sich bei den Empfehlungen nicht um einen Algorithmus oder eine Checkliste handle: «Es sind tatsächlich Richtlinien. Im Ernstfall entscheiden interdisziplinäre Teams in den Spitälern und Intensivstationen über die Triage, wobei der ranghöchste Intensivmediziner die Entscheidungshoheit hat.» Wichtig sei auch, dass sämtliche Entscheide im Detail begründet und schriftlich festgehalten würden. «Jede Triage-Entscheidung muss im Nachhinein lückenlos nachvollziehbar sein», sagt Egli.

Spitäler begrüssen Richtlinien

Tanja Krones ist Leiterin Klinische Ethik am Zürcher Universitätsspital. Grundsätzlich begrüsst sie die neuen Richtlinien: «Sie erleichtern den Entscheidungsträgern in der Intensivmedizin diese äusserst schwierige Entscheidung, stellen sicher, dass der Grundsatz, niemanden zu diskriminieren, eingehalten wird und dass die Entscheidungen dem prioritären Ziel dienen: so viele Leben wie möglich zu retten.» In Bezug auf einzelne Kriterien gebe es aber noch Anpassungsbedarf, den die SAMW aktuell zeitnah aufarbeite.

Krones betont, dass zuerst alles unternommen werden müsse, damit es gar nicht erst zur Triage komme: «Zentral erscheint hierbei, dass zuerst schweizweit koordiniert alle Ressourcen genutzt werden.» Auch eine geringfügige Aufstockung der Betten sei noch möglich. «Und bevor hier mit der Triage begonnen werden muss, gibt es noch die Möglichkeit, Nachbarländer mit mehr Kapazitäten um Hilfe zu bitten.»

Die Empfehlungen der SAMW beinhalten zwei Stufen: In Phase A sind schweizweit noch Betten verfügbar, es wird aber davon ausgegangen, dass diese in den nächsten Tagen besetzt werden. In Phase B sind schweizweit keine Betten mehr verfügbar. «Damit ein Spital nicht mit der Triage beginnt, obwohl andernorts noch Betten frei sind, soll der Entscheid, wann mit der Triage begonnen wird, von der nationalen Koordinierungsstelle getroffen werden», sagt Krones. Das empfehle auch die SAMW.

Medizinische und ethische Abwägungen

Lukas Fischler (Chefarzt Anästhesie und Intensivmedizin) und Tatjana Weidmann (Leiterin Klinische Ethik) vom Kantonsspital Baselland erklären: «Aus medizinischer Sicht bedeutet Alter mit Gebrechlichkeit, dass ein Körper stark geschwächt ist und kaum Reserven hat. Wenn bei solchen Personen eine schwere beatmungspflichtige Erkrankung auftritt, bedeutet das generell ein sehr geringes Überlebensrisiko.» Neben einer solchen Fragestellung gelte es aber auch zu fragen, inwiefern es ethisch vertretbar sei, bei sehr negativer Prognose überhaupt eine intensivmedizinische Behandlung durchzuführen. «Die Frage, ob es sinnvoll ist, Menschen mit ‹dieser Ausgangslage› auf einer Intensivstation aufzunehmen, ist aus unserer ‹von der Front her› geprägten ethischen Sicht weniger eine Frage der Ungleichbehandlung oder Diskriminierung, sondern eher eine Frage, ob man dem betroffenen Menschen mit einer invasiven, im Durchschnitt 14 Tage dauernden intensivmedizinischen Behandlung wirklich etwas Gutes tut und ob man jemandem, der aufgrund des Alters und der Gebrechlichkeit a priori sehr schlechte Karten hat, eine solche Behandlung zumuten darf respektive sollte.»

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