Runder TischWie habt ihrs mit der Religion?
Während Religionskonflikte weltweit zunehmen, haben sich ein Christ, eine Muslimin, ein Jude und eine Atheistin mit 20 Minuten an einen Tisch gesetzt. Ein Gespräch über den Glauben, Vorurteile und Terror im Namen Gottes.
Auf der 20-Minuten-Redaktion haben sich der Christ Adrian Hartmann (31), die Muslima Fathima Ifthikar (27), der Jude Ronny Pifko (29) und die Atheistin Andrea Scheck (21) eingefunden. Während eineinhalb Stunden stellen sie sich Vorurteilen, erzählen von Diskriminierung und davon, was ihnen Gott bedeutet.
20 Minuten: Bitte nehmt Platz und bedient euch.
Fathima: Willst du lieber Wasser mit oder ohne?
Ronny: Lieber mit.
Fathima: Hier.
Ronny: Super, schon das erste Geschäft erfolgreich abgeschlossen. lacht
Beginnen wir mit der Gretchenfrage: Wie habt ihrs mit der Religion?
Adrian: Der Glaube an Jesus Christus gibt mir Halt und Vertrauen. Er bereitet mich auf das Jenseits und das Leben mit Gott vor. Das Ziel ist das Paradies - auch wenn das Paradies zurzeit in Verruf geraten ist wegen der 72 Jungfrauen.
Ronny:Für mich ist Glaube die tägliche Motivation. Ich halte die jüdischen Gebote ein: Ich gehe dreimal täglich in die Synagoge, esse koscher und arbeite am Sabbat nicht.
Fathima: Der Glaube gibt mir in jeder Lebenslage Halt und Kraft. Ich habe die Gewissheit, dass alles einen Grund hat und sich zum Guten wenden wird. Ich bete fünfmal am Tag, trage ein Kopftuch und esse halal. Morgens drehe ich beim Zähneputzen das Wasser ab, weil der Islam vorschreibt, verantwortungsvoll mit den Ressourcen umzugehen.
Andrea: Ich glaube an keinen Gott und lebe ganz gut so. Meine Eltern haben mich nicht getauft und ich habe als Kind auch nie eine Kirche besucht. Durch Diskussionen und Nachdenken bin ich darauf gekommen, dass es da keine höhere Macht gibt.
Glaubt ihr, dass Andrea als Atheistin etwas verpasst?
Adrian: Ich bedauere, dass Andrea ohne Religion aufgewachsen ist. Aber das ist eine Sache zwischen ihr und Gott. Ich würde jetzt nicht sagen, dass man dann in die Hölle kommt. Denn das Paradies steht allen offen. Aber Atheisten verpassen die Beziehung mit Gott. Es gibt keine Wertebasis, die einem zeigt, wie man mit Menschen umgehen soll. Mich nimmt es wunder, was deine Massstäbe sind. Das Parteiprogramm der Juso? lacht
Andrea:Ich glaube, ich bin auch ohne Religion ein guter Mensch. Ich brauche das Christentum nicht, um moralisch richtig zu handeln. Meine Wertehaltung basiert zwar auf dem Christentum. Aber wenn ich einen Entscheid treffe, dann mache ich das aus eigenen Überlegungen heraus, und nicht, weil es mir ein Buch vorschreibt. Dafür trage ich dann auch die Verantwortung. Der Atheismus hat meinen moralischen Kodex gestärkt.
Wie reagierst du darauf, wenn jemand versucht, dich vom Glauben zu überzeugen?
Andrea: Ich ignoriere es. Mir persönlich wäre es unangenehm, anderen Menschen zu sagen: Du machst etwas falsch in deinem Leben. Ich versuche ja auch nicht, Gläubige von meinem Unglauben zu überzeugen.
Adrian: Die Mission ist inzwischen zu einem Schimpfwort geworden. Völlig zu Unrecht. Es ist ja eigentlich nichts anderes, als wenn du Juso-Flyers verteilst.
Ronny: Für mich ist Missionieren ein Eingriff in meine Privatsphäre. Ich bin jüdisch geboren, möchte als Jude gute Taten vollbringen und als Jude sterben. Wenn du dann kommst und sagst: ‹Hey Ronny, komm, ich zeige dir die wahre Erleuchtung und so weiter - das will ich nicht.› Ich muss Jude bleiben. Deshalb: Lass mich doch leben, wie ich will!
Fathima: Also, ich versuche erst gar nicht, jemanden zu missionieren. Der Islam hat im Moment ja nicht gerade das beste Image. Ich bin damit beschäftigt, die Leute davon zu überzeugen, dass Muslime nicht automatisch Terroristen sind.
Glauben das denn die Leute? Gibt es Vorurteile?
Fathima: Ja, ich spüre viele Vorurteile. Viele Leute schauen mich wegen des Kopftuchs komisch an und glauben, dass ich unterdrückt werde. Sie können sich nicht vorstellen, dass ich Schweizerdeutsch spreche, erwerbstätig bin und studiere. Dabei sehe ich mich als Schweizerin und versuche mein Bestes, um gegen diese Vorurteile anzukämpfen. Warum sollte man meinen, ich sei eine Terroristin?
Was geht dir durch den Kopf, Ronny, wenn dir ein Moslem auf der Strasse begegnet?
Ronny: Wenn ich Muslime sehe, dann frage ich mich: Ist diese Person gegen mich, meine Religion und mein Volk? Oder lebt sie einfach nur ihren Glauben aus? Antisemitismus erfahre ich vor allem von schlecht Gebildeten Leuten mit Migrationshintergrund. Ihnen wurde in die Wiege gelegt, dass Juden schlecht sind. In der Schweiz ist Antisemitismus aber zum Glück viel weniger stark verbreitet als in Frankreich, wo es auch viel mehr Muslime gibt.
Fathima: Antisemitismus hat doch nichts mit dem Islam zu tun, sondern mit der Mentalität. Viele Antisemiten stammen aus tieferen sozialen Schichten. Schichten, die einen Sündenbock suchen.
Adrian: Dass Antisemiten nur die schlecht Ausgebildeten sind, stimmt sicher nicht. Viele Führungspersonen der Hamas haben studiert. Wenn Muslime Antisemiten sind, hat das sehr viel mit dem Islam zu tun.
Fathima: Bei diesen hat eine Gehirnwäsche stattgefunden. Wenn man einem Kind beibringt, der Ball sei quadratisch, dann glaubt es das. Die haben gar keine andere Chance. Was im Gazastreifen passiert, ist für beide Seiten schrecklich. Man sollte vor den Menschen Achtung haben. Dass Juden während des Zweiten Weltkriegs verfolgt wurden, finde ich ganz, ganz schlimm. Aber ich frage mich im Hinblick auf Gaza: Machen die Juden jetzt nicht genau das Gleiche mit den Palästinensern? Haben diese nicht auch ein Recht auf ihr Land? Wurden da nicht plötzlich die Rollen von David und Goliath vertauscht?
Ronny: Du vermischt hier zwei Dinge. Der Holocaust war eine ethnische Säuberung. Die Nazis wollten das jüdische Volk ausrotten. Was Israel in Palästina macht, ist politischer Natur, um sich selbst zu verteidigen. Es geht nicht darum, alle Palästinenser auszurotten. Israel hat sich zum Ziel gesetzt, keine Zivilisten zu töten. Sonst würde man die Leute nicht vor Bomben warnen und den Angriff nicht nur auf den Gazastreifen konzentrieren.
Fathima: Jetzt sprechen wir plötzlich über irgendeinen Krieg, der sehr weit weg ist von uns. Wir haben hier andere Probleme, etwa dass wir schauen müssen, wie wir Moslems, Christen und Juden besser auskommen können.
Ronny: Das stimmt, aber es überschneidet sich halt. Viele Leute verbinden Nationalitäten mit Religion.
Andrea: Also ich respektiere das Existenzrecht des Staates Israel. In meinem Freundeskreis aber ist die Stimmung eher auf der propalästinensischen Seite.
Adrian: Ich bin auf keiner Seite. Ich habe als Christ alle gern. lacht
Im Moment sorgt die Terrororganisation Islamischer Staat für Angst und Schrecken. Steckt im Islam etwas Böses?
Fathima:Auf keinen Fall. Nur weil es ein paar Extremisten gibt, ist nicht die ganze Religion schlecht. Wenn ich mit einem Mercedes einen Unfall baue, kann der Mercedes nichts dafür. Genauso verhält es sich mit der Religion. Der Islam predigt keinen Hass. Ich kann nichts dafür, wenn Menschen den Islam falsch interpretieren.
Ronny: Nur im Islam gibt es solche extreme Auslegungen. Mir ist keine Auslegung der jüdischen Schriften bekannt, wo zum Mord oder zur Erniedrigung der Frau aufgerufen wird.
Fathima: Bei uns gibt es keinen Aufruf zum Mord.
Ronny: Aber es gibt wichtige Vertreter des Islam, die es so interpretieren. Es gibt bekannte Muftis, die zur Auslöschung Israels und der ganzen jüdischen Rasse aufrufen.
Fathima: Das hat rein gar nichts mit der Religion zu tun, sondern mit der Kultur.
Andrea: Das Problem mit der Auslegung hat man im Christentum ja auch. Im Alten Testament heisst es: Wenn eine Frau auf der Strasse vergewaltigt wird und nicht laut genug schreit, dann darf sie gesteinigt werden. Das ist doch genau so absurd.
Adrian: Aber schauen wir uns doch mal den radikalsten Christen an. Das ist vielleicht Terry Jones. Das Schlimmste, was er macht, ist, den Koran zu verbrennen.
Andrea: Ja, aber es gibt in Amerika auch fundamentale Christen, die Kampagnen gegen Homosexuelle führen.
Adrian: Aber es wird nicht gemordet. Im Islam ist etwas angelegt, das die Gewalt begünstigt. Oder warum gibt es in fünfzig islamischen Ländern keine Religionsfreiheit? Es wäre schön, wenn es alle so sehen würden wie du, Fatimah. Leider ist das nur eine Minderheit.
Fathima: Wenn das so wäre, wie du sagst, dann würde kein Christ mehr in einem muslimischen Land Ferien machen. Ich war in Dubai in einem Wasserpark mit Frauen im Bikini. In Kairo gibt es Synagogen, Moscheen und Kirchen. Das Zusammenleben funktionierte super. In Sri Lanka feiert man nicht nur die Feiertage der Muslime, sondern auch der Christen und Buddhisten. Okay, es gibt Länder, wo es keine Religionsfreiheit gibt. Aber das ist ihre Wahl, die muss man respektieren. Die Entscheide der Schweiz werden schliesslich auch respektiert.
Adrian: Im August letzten Jahres herrschte die grösste Gewaltwelle gegen Christen seit hundert Jahren. Über hundert Kirchen wurden von radikalen Muslimen abgebrannt.
Fathima: Das finde ich schlimm. Aber noch einmal: Das Problem ist nicht der Islam, sondern die Menschen, die das Falsche predigen. Böses kann in jedem Menschen stecken, gewisse leben es aus. Man muss den Koran einfach richtig verstehen. Mich ärgert, dass niemand etwas sagt, wenn Muslime unterdrückt werden. In China zum Beispiel werden Muslime seit Jahren unterdrückt und gelyncht und alle schweigen.
Bedauerst du es, dass in vielen islamischen Ländern Menschenrechte nicht eingehalten werden?
Fathima: Ja, aber im Islam gab es das Frauenstimmrecht schon vor 1400 Jahren. Das kann man von der Schweiz nicht behaupten. Der Islam schreibt auch vor, Minderheiten zu schützen. Dass gewisse islamische Länder Menschenrechte nicht einhalten, hat nichts mit dem Islam zu tun.
Als Karikaturen von Mohammed auftauchten, protestierten zehntausende Muslime. Wenn der IS im Namen Allah religiöse Minderheiten tötet, gibt es kaum Proteste. Warum?
Fathima: Ich finde es krass, dass ich mich für eine Tat einer Terrorgruppe rechtfertigen muss, mit der ich als normale Muslima nichts zu tun habe. Ausserdem gab es Demonstrationen. Tausende Muftis haben sich distanziert. Wenn schon, dann müssten ja alle Menschen gegen den IS protestieren.
Ronny: Die betreffenden arabischen Staaten unternehmen wenig bis nichts gegen den IS. Warum? Viele Menschen auf der ganzen Welt haben Angst.
Adrian: Meine letzte Irak-Reise hat mich erschüttert. Eigentlich unterscheide ich zwischen Muslimen und Islamisten. Doch vielerorts haben normale Muslime die IS-Fahnen rausgehängt, als die IS einmarschierte. Warum?
Fathima: Ich kann mich nicht zur politischen Lage äussern. Das Einzige, was ich sagen kann, ist: Was der IS macht, hat nichts mit der Religion zu tun.
Andrea: Ich würde es begrüssen, wenn Muslime in der Schweiz protestieren würden, um zu zeigen: Das ist nicht der Islam, so wie wir ihn leben wollen. Aber schlussendlich muss das jeder für sich selber entscheiden.
Kommen wir zum Schluss: Was ist wichtiger, Glaube oder Liebe? Oder anders gefragt: Würdet ihr jemanden heiraten, der nicht eurer Religion angehört? Schliesslich erlaubt das weder das Judentum, der Islam noch das Christentum.
Adrian: Das könnte ich mir nicht vorstellen. Ich bin mit einer Christin verheiratet, mit der ich die gleichen Werte teile. Meine Schwester war mit einem Atheisten zusammen, aber er ist inzwischen Christ.
Ronny: Das Judentum erlaubt uns nicht, eine Person mit einem anderen Glauben zu ehelichen. Grund dafür ist der Erhalt des Judentums. Darum bin ich auch mit einer Jüdin verheiratet. Wenn man religiös ist und den religiösen Weg lebt, dann verliebt man sich auch nicht in jemand anderes.
Fathima: Ich will keinen Mann, der Alkohol trinkt und mit einer Fahne nach Hause kommt. Ich will ihm auch nicht zum Frühstück Speck braten. Muslime trinken keinen Alkohol und essen kein Schweinefleisch. Für mich ist eine gemeinsame Wertebasis elementar. Andrea, du würdest ja auch nicht jemanden von der SVP heiraten, oder?
Andrea: Das stimmt, aber es gibt kein Buch, das mir das verbieten würde. Mich würde es stören, wenn ich jemanden wegen der Religion nicht heiraten dürfte. Für mich steht die Liebe über der Religion.
Das sind die Teilnehmer
Adrian Hartmann (31) ist Christ und lebt in Uster. Er arbeitet bei der christlichen Menschenrechtsorganisation Christian Solidarity International und ist mit einer Christin verheiratet.
Ronny Pifko (29) ist orthodoxer Jude und lebt in Zürich. Er arbeitet in der Finanz- und Immobilienbranche, ist mit einer Jüdin verheiratet und hat drei Kinder.
Fathima Ifthikar (27) ist Muslima und lebt in Will SG. Sie arbeitet als Online Producerin, studiert Business Kommunikation in Zürich und ist mit einem Muslim verheiratet.
Andrea Scheck (21) ist Atheistin. Sie studiert Übersetzen und Dolmetschen an der ZHAW und ist Geschäftsleitungsmitglied der Juso Schweiz. Scheck lebt in St. Gallen.