Depressionen und Borderline - Elianne (31) ist Mutter und ist psychisch erkrankt

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Psychisch erkrankte Eltern«Wie kann ich als Mutter nur Todessehnsucht haben?»

Elianne (31) ist Mutter von zwei jungen Kindern und lebt mit Borderline und Depressionen. Sie erzählt, wie sie ihren Alltag zwischen Klinik und Spielgruppe managt.

Elianne (31) wollte schon immer Mutter werden – ihre psychische Erkrankung zwingt sie nun dazu, ihre Mutterrolle neu zu definieren.
«Zwei Drittel der Kinder von psychisch belasteten Eltern werden ein Leben lang psychisch belastet bleiben, die Hälfte davon wird selbst schwer erkranken», sagt Fachexpertin Alessandra Weber vom Institut Kinderseele Schweiz.
Worte waren nie so ihr Ding, sagt Elianne: «Meine Bilder können das ausdrücken, was ich mit Worten nicht vermag.» Eine Auswahl ihrer Malerei publiziert sie regelmässig auf ihrem Instagram-Profil. Seit einigen Wochen führt Elianne zudem ein Mal-Tagebuch (siehe nachfolgende Bilder).
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Elianne (31) wollte schon immer Mutter werden – ihre psychische Erkrankung zwingt sie nun dazu, ihre Mutterrolle neu zu definieren.

Milad Ahmadvand, milad.ch

Darum gehts

  • Knapp 20 Prozent aller Elternteile in der Schweiz leben mit einer psychischen Erkrankung. Elianne (31) ist eine davon.

  • Mit ihren Kindern (4 und 5) redet Elianne offen über ihre Borderline-Erkrankung.

  • «Zwei Drittel der Kinder von psychisch belasteten Eltern werden ein Leben lang psychisch belastet bleiben», sagt Fachexpertin Alessandra Weber.

«Meine Kinder fragten mich, ob ich Bauchweh hätte, als ich ihnen sagte, dass ich in die Klinik gehe», erzählt Elianne (31). Sie ist Mutter einer Tochter (5) und eines Sohnes (4). Vor zwei Jahren erhielt sie die Diagnosen Borderline-Persönlichkeitsstörung und Depressionen, vor vier Monaten begab sie sich in eine psychiatrische Klinik. «Als ich meinen Kindern sagte, dass ich kein Bauchweh hätte, sondern dass es mir sonst nicht gut gehe, wollte mir meine Tochter beim nächsten Einkauf ein Häsli kaufen und wünschte mir gute Besserung.»

Borderline ist eine seltene Erkrankung. Gemäss der Stiftung Pro Mente Sana zeigt eine deutsche Übersichtsstudie aus dem Jahr 2018 auf, dass etwa 1,6 Prozent der deutschen Bevölkerung davon betroffen sind – die Zahl liesse sich auf die Schweiz übertragen. Anzeichen für Borderline sind unter anderem heftige Stimmungsschwankungen, selbstverletzendes Verhalten und unkontrollierbare Wut – alles trifft bei Elianne zu: «Borderline bedeutet für mich extreme Spannungszustände. Es ist ein Gemisch aus Stress, Überforderung und zu vielen Emotionen. Die Auslöser sind simpel: Streit mit meinem Mann oder Probleme im Job. Meine Emotionen erdrücken mich dann fast und ich versuche, innerlich zu flüchten. Die Lösung meiner Probleme sehe ich dann nur noch in meinem Tod. In diesen Momenten verletze ich mich selbst. Denn der Schmerz gleicht einer Entspannung – zumindest für einen kurzen Moment.»

«Wie kann ich als Mutter nur Todessehnsucht haben?»

«Auch wenn ich eine Nacht lang nicht schlafen konnte: Ich bringe meine Kinder morgens immer in die Spielgruppe. Dann funktioniere ich nur noch und stelle meine Emotionen ab», erzählt Elianne. Die Selbstverletzungen bleiben aber auch ihren Kindern nicht verborgen. «Wenn ich aus der Dusche komme und meine Kleinen die verheilten Narben sehen, fragen sie mich, was dort passiert sei. Ich antworte ihnen, dass ich mir da einmal weh gemacht habe. Das reicht ihnen als Antwort – zumindest jetzt noch.» Elianne will ihre Kinder nicht mit zu vielen Informationen überfordern und gleichzeitig ihre Erkrankung nicht verschweigen. Auch abseits des Familienlebens redet Elianne offen über ihre psychische Erkrankung und engagiert sich für dessen Entstigmatisierung (siehe Absatz weiter unten).

Elianne wollte schon immer Mutter werden und bereut es bis heute nicht. Die beiden Schwangerschaften halfen ihr sogar, aus einem depressiven Tief zu kommen. «Das schlechte Gewissen plagt mich aber. ‹Wie kann ich mich nur selbst verletzen oder Todessehnsucht haben? Ich bin doch Mutter!› – das werfe ich mir häufig vor. Klar weiss ich, dass das schlechte Gewissen niemandem etwas bringt. Ich gebe einfach mein bestes. Tagtäglich.»

Die Selbstzweifel und die zu hohen Erwartungen an sich selbst übten auf Elianne einen zu grossen Druck aus: «Vor drei Jahren fiel ich deswegen in ein tiefes Loch. Und noch heute bin ich dran, dort raus zu kommen.»

Das Malen als Kommunikationsmittel

Die Erkrankung forderte auch Eliannes Ehe heraus. Vor sechs Jahren spürte ihr Mann zum ersten Mal die Auswirkungen der Borderlinestörung seiner Frau: «Ich zog mich zurück, versuchte mein Gefühlschaos mit Alkohol vermeintlich ertragbarer zu machen und lebte meine Todessehnsucht mit risikoreichem Verhalten aus, in dem ich zum Beispiel zu schnell Auto fuhr.» Da Elianne mit ihrem Mann nicht über die Situation reden wollte, kam es oft zum Streit. «Worte waren nie so mein Ding», sagt Elianne.

Seit ihrer Jugend zeichnet sie viel und so wurde die Kunst zu einem wichtigen Kommunikationskanal zwischen Elianne und ihrem Mann. «Meine Bilder können das ausdrücken, was ich mit Worten nicht vermag. Manchmal sagt mein Mann zu mir: ‹Elianne, bitte zeig mir, woran du gerade arbeitest.› Dann sieht er, wie es mir geht, ohne dass ich reden muss. Mein Mann unterstützt mich sehr, dafür bin ich ihm dankbar.» Einen Teil ihrer Bilder postet Elianne auch auf ihrem Instagram-Profil.

Kieselstein in den Schuhen

Erst vor wenigen Tagen kehrte Elianne nach ihrem Klinikaufenthalt zurück nach Hause – vollgepackt mit Hoffnung und neuen Alltagsstrategien. So führt sie seit einigen Wochen ein Mal-Tagebuch (siehe oben in der Bildstrecke) und hat auch einen ganz praktischen Trick für sich entdeckt: «Wenn die Anspannung kommt, lege ich einen Kieselstein in meine Schuhe. Der Schmerz, den ich dann spüre, verletzt mich nicht und trotzdem lenkt er mich innert Sekunden von meinen negativen Gedanken ab und bringt mich ins Hier und Jetzt.»

Zudem will Elianne ihre Rolle als Mutter neu definieren: «Seit der Geburt meiner Kinder erlaubte ich es mir nicht, Zeit für mich zu nehmen. Die Krankheit zwingt mich nun dazu. Ich muss lernen, über meinen Schatten zu springen und um Hilfe zu bitten, zum Beispiel, ob jemand zwischendurch die Kinder hüten kann.»

Hier kannst du Elianne persönlich treffen: Elianne ist Teil von «Madnesst», ein Netzwerk von Mental-Health-Aktivist*innen, das gegen die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen kämpft. An dessen Debutveranstaltung am 30. Oktober 2021 in Winterthur wird Elianne vor Ort malen und ihre Kunstwerke ausstellen. Mehr Infos dazu findest du hier.

Willst auch du über deine psychische Gesundheit reden? Dann melde dich hier via Formular.

«Knapp jedes fünfte Elternteil ist psychisch erkrankt»

Alessandra Weber ist Geschäftsleiterin des Instituts Kinderseele Schweiz. Die Stiftung setzt sich dafür ein, dass sich Kinder psychisch erkrankter Eltern gesund entwickeln.

Alessandra Weber ist Geschäftsleiterin des Instituts Kinderseele Schweiz. Die Stiftung setzt sich dafür ein, dass sich Kinder psychisch erkrankter Eltern gesund entwickeln.

Institut Kinderseele Schweiz

Frau Weber, Elianne geht mit ihrer Diagnose offen um, mit dem Ziel, anderen Betroffenen zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Wie wirkt sich dieses Engagement auf ihre Kinder aus?

Alessandra Weber: Fakt ist leider, dass psychisch erkrankte Menschen immer wieder abgewertet und ausgegrenzt werden. Grund dafür sind die falschen Vorstellungen, was eine psychische Erkrankung wirklich ist. Diese Vorurteile und Ängste gilt es abzubauen – darum finde ich es grundsätzlich super, dass Elianne dafür kämpft. Sie muss sich einfach bewusst sein, dass das nicht nur sie, sondern auch ihre Kinder verletzlich und angreifbar macht.

Wie viele Eltern leben mit einer psychischen Erkrankung?

In der Schweiz ist knapp jedes fünfte Elternteil psychisch erkrankt.

Sind deren Kinder besonders gefährdet, eine eigene psychische Erkrankung zu entwickeln – oder gar besonders geschützt?

Eine psychische Erkrankung eines Elternteils ist mehr Risiko als Chance für das Kind. Zwei Drittel dieser Kinder werden ein Leben lang psychisch belastet bleiben, die Hälfte davon wird selbst schwer erkranken. Lediglich ein Drittel der Kinder von psychisch belasteten Eltern bleibt psychisch ganz gesund.

Welche Faktoren entscheiden, zu welchem Drittel das Kind gehören wird?

Es sind primär die sozialen Faktoren, die beeinflussen, ob sich ein Kind gesund entwickelt. Die Vererbung spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Es ist darum zum Beispiel wichtig, dass die Eltern und das Umfeld offen über die psychische Erkrankung des Elternteils sprechen und seine Fragen ehrlich beantworten.

Kann das ein Kind nicht überfordern?

Wie es Elianne schön beschrieben hat: Wenn die Kinder fragen, was das für Narben sind, dann darf man ihnen eine ehrliche Antwort geben. Und wenn sie mit der Antwort «Weil Mami sich dort weh gemacht hat» zufrieden sind, dann ist das völlig okay. Werden die Kinder älter und fragen nach mehr Details, sollte man auch dann offen darüber reden.

Aber nochmals: Kann es ein Kind nicht überfordern, wenn die Mutter erzählt, dass sie sich die Narben selbst zugefügt hat?

Das kann verstörend sein, ja. Doch wenn Elianne und ihre Kinder offen miteinander reden, kann Elianne dies bestimmt auffangen. Ehrliche Erklärungen sind einer der grössten Schutzfaktoren der Kinder. Einige Eltern machen aus der Krankheit ein Geheimnis, sie verstecken sie, um das Kind vermeintlich zu schützen. Wir wissen aber, dass dies für das Kind viel belastender ist, da es sich dann seine eigenen Fantasien dazu macht. Kinder können dann beispielsweise in einer akuten Krankheitsphase zum Schluss kommen, dass sie Schuld daran sind, dass es der Mutter nicht gut geht. Eine ehrliche Antwort entlastet das Kind.

Elianne schämt sich, da sie wegen ihrer Erkrankung ihre Mutterrolle nicht wie gewünscht erfüllen kann. Aber was macht eine gute Mutter, einen guten Vater aus?

Ein gutes Elternteil muss nicht alles selbst meistern können – das gilt auch für psychisch gesunde Eltern. Man darf und muss sich aber Hilfe holen. Idealerweise treffen die Eltern zusammen mit den Kindern Vorkehrungen mittels Notfallplan: Darin ist geregelt, an wen sich das Kind wenden kann, wenn es dem Vater oder der Mutter nicht gut geht. Aber auch das soziale Umfeld der Eltern kann involviert werden, gerade wenn es darum geht, wer in einer akuten Krankheitsepisode eines Elternteils die Kinder hütet.

Die Scham als Hürde, um nach Hilfe zu fragen, bleibt aber.

Ja, Schamgefühle sind die grösste Hürde. Umso wichtiger also, dass psychische Krankheiten in der Gesellschaft thematisiert und und die Vorurteile abgebaut werden, damit sich Betroffene eher trauen, darüber zu reden und sich Hilfe zu holen.

Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung?

Hier findest du Hilfe:

Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858

Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen

Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55

Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

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