Alexander LukaschenkoWie lange hält sich «der letzte Diktator Europas» noch?
Proteste und willkürliche Massenverhaftungen in Weissrussland. Wie lange kann sich Alexander Lukaschenko, der als «der letzte Diktator Europas» gilt, noch an der Macht halten? Antworten von Weissrussland-Experte Sven Gerst.
Darum gehts
- Seit 26 Jahren ist Alexander Lukaschenko in Weissrussland an der Macht.
- Seit Tagen protestiert das Volk gegen seinen 6. «Wahlsieg».
- Experte Sven Gerst vom London King’s College erklärt im Interview, wieso dies wohl das Ende von «Europas letztem Diktator» ist.
Seit über einem Vierteljahrhundert ist er in der einstigen Sowjetrepublik an der Macht: Präsident Alexander Lukaschenko. Soeben wurde er mit 80,1 Prozent der Stimmen wiedergewählt, zum sechsten Mal in Folge. Die Opposition wirft Lukaschenko Wahlbetrug vor und hat damit wohl recht. Zahlreiche Belege weisen auf massive Fälschungen hin.
Seit Tagen protestieren Tausende gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl. Willkürliche Massenverhaftungen waren die Folge. Jetzt liess die Regierung in Minsk überraschend einige der mehrere Tausend Demonstranten frei, die bei den Protesten festgenommen worden waren. Staatsmedien berichteten, dass Lukaschenko am Donnerstagabend selbst angewiesen habe, sich um die Lage der Gefangenen zu kümmern. Es war das erste Mal seit Tagen, dass der Machtapparat unter Lukaschenko einlenkte – aus Angst vor einem Sturz? Wie lange kann sich der Mann, der als «der letzte Diktator Europas» gilt, noch an der Macht halten? Antworten von Weissrussland-Experte Sven Gerst.
Herr Gerst, wieso liess Lukaschenko auf einmal einen Teil der willkürlich Verhafteten frei – etwa aus Angst?
Sven Gerst: Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine wäre, dass er damit versucht, die Situation zu befrieden. Das ist die positive Interpretation. Die negative Interpretation ist, dass Lukaschenko diese Art von Terror verfolgt, die er schon in den letzten Tagen verfolgt hat, nämlich, die Bevölkerung einzuschüchtern. Weil diese erfährt natürlich jetzt, was in diesen Gefängnissen passiert ist und sehen, wie die Leute zugerichtet wurden. Das würde natürlich noch mehr diesen Angstfaktor mit rein bringen. Das deckt sich mit dem, was man im Staatsfernsehen sieht: Etwas Jugendliche, die vor der Kamera schwören müssen, nicht mehr zu den Protesten zu gehen.
Es ist Lukaschenkos 6. Wahlsieg. Wieso erhebt sich das Volk jetzt dagegen?
Hätte mir jemand Anfang Jahr gesagt, dass dies im Sommer 2020 quasi eine Revolution stattfindet, hätte ich ihm den Vogel gezeigt. Andererseits: Als ich in Weissrussland lebte, habe ich schon so eine Art Politisierung der Leute gesehen. Dafür gibt es mehrere Gründe: die wirtschaftliche Stagnation, Lukaschenkos wahnwitziger Umgang mit der Coronakrise und auch, dass man diesen «Vintage-Sowjetstil» satt hat. Die Leute wollen ihre eigene nationale Identität entdecken und nicht als quasi-Sowjetrepublik in der Vergangenheit leben. Deswegen sieht man jetzt auch überall die traditionellen weiss-roten Banner und Insignien wie den belarussischen Ritter bei den Protesten. Die kannte man vorher nur von einer Minderheit. All diese Gründe bringen die Leute jetzt auf die Strasse. Die 80 Prozent der Stimmen, die Lukaschenko für sich reklamiert, war für sie ein Schlag ins Gesicht.
Wird dieser Protest von jungen Leuten getrieben?
Sie spielen sicher eine Rolle, aber man kann die Proteste nicht auf sie reduzieren. Wir sehen zum ersten mal eine vollständige Generation, die in einem unabhängigen Weissrussland aufgewachsen ist. Seit seiner Unabhängigkeit 1991 ist das Land zum ersten Mal völlig unabhängig von regionalen Territorialmächten. Diese ganze Generation wurde in diesem Sommer politisiert—nicht nur die Studenten, die schon immer Lukaschenko-kritisch waren. Jetzt ist der Widerstand wirklich breit: Arbeiterklasse und Bildungsbürgertum ziehen an einem Strang, es ist wirklich eine Massenbewegung. Mittlerweile geht sogar die Kernwählerschaft von Lukaschenko – die ländlichen Regionen, die Arbeiterbevölkerung und die Älteren – gegen ihn auf die Strasse, weil diese Art von Gewalt und offensichtliche Wahlfälschung nicht mehr toleriert wird.
Hat der mächtige Nachbar Russland, der mit Weissrussland in einem «Unionsstaat» verbunden ist, ein Interesse am Sturz Lukaschenkos?
Kommt darauf an, was danach kommt. Lukaschenko war immer einschätzbar, und das mag Putin. Man muss aber auch sehen, dass Lukaschenko nicht der grösste Freund Putins oder Russlands ist. Zudem hat er mit der Wahlgratulation von Putin jetzt eine Agenda bekommen, was jetzt ansteht: Mehr Integration von Russland und Weissrussland. Und selbst wenn Lukaschenko abgesetzt werden würde, gäbe es für Russland einige interessante Szenarien: Zum Beispiel eines in dem Leute aus der jetzigen Machtstruktur quasi eine Rochade mit Lukaschenko machen. Wie wahrscheinlich das ist, kann man zum jetzigen Zeitpunkt nicht einschätzen. Es kommt darauf an, wie Russland da spielt. Aber die Machteinflussnahme ist natürlich da.
Einige glauben, der Westen orchestriere die aktuellen Aufstände in Weissrussland. Ist da etwas dran?
Nein. Die vergangenen Oppositionsbewegungen, wie zum Beispiel 2010, waren immer sehr start pro-westlich ausgerichtet und haben dies auch offen proklamiert. Doch dieses Mal ist das anders, es geht nicht um Aussenpolitik oder Geopolitik. Es ist eine Protestbewegung hin zur nationalen Identität und weg vom antiquierten Sowjet-Stil von Lukaschenko – sehr stark anti-Lukaschenko und sehr stark intern. Es ist ein sehr weissrussisches Phänomen ohne grössere Fragen nach Europa oder Russland.
Ihre Prognose: Wird sich Lukaschenko an der Macht halten können?
Ich lehne mich wohl nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass sich Lukaschenko wohl nicht wird halten können. Das weiss sowohl die Elite des Landes als auch die Bevölkerung. Sogar die wenigen, die zu ihm gestanden sind, hat er mit der Gewaltorgie gegen das eigene Volk jetzt wahrscheinlich gegen sich aufgebracht. Man muss sehen: Gewalt ist in Weissrussland ein nationales Trauma. Das Land hatte im 2. Weltkrieg bis zu 30 Prozent der Bevölkerung verloren. Wer heute in diesem Stil Gewalt gegen die eigene Bevölkerung anwendet, der hat verloren. Und die Anzeichen auf einen Machtwechsel verdichten sich: Minister, Polizisten und Fernsehstars treten von ihren Ämtern zurück. Von daher glaube ich nicht, dass es noch irgendeine Hoffnung für Lukaschenko mehr gibt.