Wie lebt es sich in einer 10-Millionen-Schweiz?

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BevölkerungswachstumWie lebt es sich in einer 10-Millionen-Schweiz?

Vor allem in den Agglomerationen dürfte die Bevölkerung stark wachsen. Laut Migrationsexperte Daniel Müller-Jentsch ist das verkraftbar – mit den richtigen Rezepten.

von
daw

Im neusten Referenzszenario rechnet das Bundesamt für Statistik damit, dass die Schweiz bis 2045 10,2 Millionen Einwohner hat. Besonders stark wächst die Bevölkerung in den Städten und der Agglomeration. In den Kantonen Zürich, Aargau, Waadt oder Thurgau wird sie um über ein Viertel zunehmen. Warum?

Den Trend zurück in die Städte sehen wir in vielen Ländern. Die Leute empfinden das Leben in den urbanen Zentren als attraktiv und dort entstehen viele Jobs im Dienstleistungssektor. Auch die Zuwanderer ziehen bevorzugt in die Städte. Dort finden sie meist bessere berufliche Perspektiven und ein toleranteres Klima als auf dem Land. Die Verstädterung des Mittellandes geht also weiter.

Noch 2010 rechneten die Demografen des Bundes mit 8,9 Millionen Einwohnern im Jahr 2060. Jetzt haben sie die Zahlen deutlich nach oben korrigiert – trotz der Masseneinwanderungsinitiative (MEI) der SVP.

Der Bund lag mit seinen Prognosen in der Vergangenheit immer zu tief. Aus dieser Erfahrung heraus ist eine Korrektur sinnvoll. Eine strikte Umsetzung der MEI würde dämpfend wirken, aber die Schweiz hat seit Jahrzehnten eine hohe Zuwanderung, auch in Phasen restriktiver Migrationspolitik. Dazu ist sie einfach zu attraktiv. Haupttreiber der Zuwanderung aus der EU war bisher der Bedarf an Arbeitskräften. Aktuell wird dieser durch die schwächelnde Wirtschaft infolge des starken Frankens etwas gedrosselt. Dem steht jedoch eine wachsende Zahl von Flüchtlingen gegenüber.

Es wird enger in der Schweiz. Heisst das, dass wir uns in den städtischen Gebieten auf noch mehr Staus und noch vollere Züge – sprich mehr Dichtestress – einstellen müssen?

Es hängt davon ab, wie wir die Rahmenbedingungen setzen. Nehmen wir den Verkehr: Hier fördern wir durch Subventionen eine Übermobilität. Im ÖV werden nur 50 Prozent der Kosten von den Nutzern getragen. Gleichzeitig nutzen wir die Kapazitäten schlecht. Die Sitzplatzauslastung bei den SBB beträgt 20 bis 30 Prozent, weil aber alle zur gleichen Zeit fahren, empfinden die Pendler Dichtestress. Durch zeitlich differenzierte Tarife liessen sich die Verkehrsspitzen glätten. Auch bei der Strasse gibt es noch Optimierungspotenzial. Würde man das Nachtfahrverbot für LKWs lockern, hätte es am Tag mehr Platz für Personenwagen. Und verdichtetes Bauen muss die Lebensqualität nicht beeinträchtigen, solange gut geplant wird. Singapur ist um ein Vielfaches dichter als Schweizer Städte, hat aber eine Spitzen-lebensqualität.

Gibt es einen Punkt, an dem Zuwanderung schädlich wird?

Die Schweiz hat von der Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus der EU wirtschaftlich stark profitiert. Ich rede aber keiner grenzenlosen Zuwanderung das Wort. Wenn das Tempo zu hoch ist, kann die Infrastruktur nicht Schritt halten und

die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft wird strapaziert.

Explodieren wird laut dem BFS die Zahl der Rentner: Sie dürfte in nahezu allen Kantonen um über 50 Prozent zunehmen, in einigen Kantonen wird sie sich gar verdoppeln. Was heisst das für die Jungen?

Die Überalterung kommt in den nächsten Jahren stark zum Tragen, wenn die geburtenstarken Jahrgänge, die Baby-Boomer, das Pensionsalter erreichen. Weniger Arbeitnehmer müssen dann mehr Rentner versorgen. Dadurch geraten die Sozialwerke in Schieflage.

Heisst das, dass die jungen Generationen länger arbeiten müssen oder aber verarmen?

Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie wir unseren Wohlstand halten können: Die angenehmste Lösung ist eine Steigerung der Produktivität. Innovationen werden noch wichtiger. Die übrigen Alternativen sind unpopulär: Man kann die Rentenleistungen kürzen, das Rentenalter erhöhen oder die jungen Generationen bezahlen mehr in die Sozialwerke ein. Am realistischsten ist wohl, dass wir länger arbeiten.

Besonders stark von der Überalterung getroffen werden die Bergkantone, wo die Zuwanderung weniger stark ist.

Das Beispiel ist sehr instruktiv: Die Überalterung wird die ländlichen Gebiete früher und stärker treffen. So ginge es ohne die Zuwanderung der ganzen Schweiz. Eine Frau bringt in der Schweiz durchschnittlich 1,5 Kinder zur Welt. Um die Bevölkerung konstant zu halten, bräuchte es in Abwesenheit der Zuwanderung aber 2,1 Kinder pro Frau. Das heisst: Ohne die jüngeren Zuwanderer sähe die Entwicklung noch viel dramatischer aus.

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