Russlands Angriff auf die UkraineWie viel Schuld trägt der Westen an diesem Krieg?
Niemand kennt die Kriegsziele von Wladimir Putins Truppen in der Ukraine. Was aber klar ist: Die Konfrontation war absehbar, und der Westen trägt dafür auch eine Verantwortung. Roland Popp von der Militärakademie an der ETH Zürich im Interview.
Darum gehts
«Ich kann Ihnen das Vorgehen Russlands nicht vorhersagen. Es ist ein Rätsel, eingewickelt in ein Mysterium innerhalb eines Enigmas», sagte Winston Churchill 1939 zu Beginn des 2. Weltkriegs. Stimmt das auch für 2022 und den Ukraine-Krieg?
Ja und nein. Die Kriegsziele des Kremls sind gegenwärtig und angesichts der spärlichen Informationen furchtbar schwer einzuschätzen. Ist es ein Sturz der ukrainischen Regierung? Ein Diktatfrieden? Eine Zerschlagung des Landes? Jede Militärstrategie ist auf das Erreichen bestimmter politischer Ziele ausgerichtet – und die kennen wir nicht. Da liegt also das Rätsel. Andererseits: Dass es zu einer militärischen Konfrontation gekommen ist, kann nicht wirklich überraschen, das ist weder ein Mysterium noch ein Enigma. Denn Wladimir Putin hat zwanzig Jahre lang sehr dezidiert wiederholt, dass Russland die Westbindung der Ukraine nicht hinnehmen wird, weil diese mit den eigenen strategischen Interessen unvereinbar ist. Nur hat ihn der Westen nicht ernst genommen, oder besser: nicht ernst genug.
Der Westen trägt also eine Mitverantwortung an diesem Krieg?
Das kann man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht beurteilen, würde ich als Historiker sagen. Ich wäre auch nicht überrascht, wenn es auch in 30 oder 50 Jahren, wenn die Archive geöffnet werden, immer noch unklar bleibt. Sicher ist, dass es grosse historische Debatten über diesen Krieg und seinen Ursprung geben wird. Der unmittelbare Kriegsausbruch fällt aber eindeutig zulasten Russlands, das klar einen Angriffskrieg führt.
Der Westen machte der Ukraine in der Vergangenheit aber doch Hoffnungen auf einen Nato- und EU-Beitritt, statt dies mit Blick auf Russland konsequent abzulehnen?
Absolut. Die westliche Position war, dass ein Beitritt noch nicht in Frage käme, aber dass das mittel- bis langfristig das Ziel sei. Der Sündenfall war 2008, nach dem Georgien-Krieg. Damals schrieb man tatsächlich fest, dass es langfristig die Option auf eine Mitgliedschaft gibt – trotz aller russischen Warnungen.
Fest steht: Es ist Krieg in Europa. War die Nato-Osterweiterung ein Fehler?
Ganz grundsätzlich muss da gesagt werden: Die Befürworter für eine Ausdehnung der Nato auf Osteuropa haben, wenn auch nicht explizit, das immer wieder damit begründet, dass Russland letztlich keine Mittel hat, dies zu verhindern. Man glaubte, so mehr Sicherheit zu schaffen. 2022 muss man im Rückblick sagen: Die Nato-Osterweiterung hat für einige Staaten mehr Sicherheit geschaffen - und für andere die Sicherheit zerstört. So sieht zumindest das vorläufige historische Fazit aus.