Vergewaltigungsopfer«Wie wollen Sie authentisch sein?»
Bei einem Strafverfahren wegen Vergewaltigung hängt die Anklage oft an einem seidenen Faden. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit des Opfers.
Die Bemerkung sorgte für Aufregung: Seiner Tochter würde er im Zweifel abraten, eine Vergewaltigung bei der Polizei anzuzeigen, sagte der Berliner Ex-Staatsanwalt Hansjürgen Karge in der ARD-Talkshow «Anne Will».
Tatsächlich wird in Deutschland der Täter nur in 13 Prozent der angezeigten Fälle verurteilt. Für das Opfer ist der Prozess in jedem Fall eine Tortur. Es muss - meist öffentlich - vor Gericht über intime Dinge Auskunft geben und setzt sich, wie im Fall Kachelmann, zugleich oft dem Vorwurf aus, gelogen zu haben.
«Gesamtgesellschaftlich ist es wichtig, dass Anzeige erstattet wird», sagt die Ärztin Julia Schellong, Expertin für Psychotraumatologie an der Universitätsklinik Dresden, der Nachrichtenagentur DAPD. Aber jede Frau müsse sich genau überlegen, was sie tue. Sie solle auf jeden Fall vorher eine Opferberatungsstelle aufsuchen und professionelle Hilfe in Anspruch nehmen.
Ein Prozess gegen den Täter könne der Frau bei der Bewältigung des erlebten Traumas helfen, erklärt Schellong. Allerdings habe sie in ihrer Praxis auch schon das Umgekehrte erlebt - dass ein Strafverfahren die Frau neu traumatisiert habe. Die Ärztin betont: «Gerichtsprozesse sind keine Ergänzung der Psychotherapie mit anderen Mitteln.»
Kein Zurück nach gemeldeter Tat
Die Polizei ist verpflichtet, eine mutmassliche Sexualstraftat zu verfolgen, wenn sie davon erfahren hat. Ein Opfer kann eine Anzeige also nicht mehr zurückziehen und muss bei einem Prozess dann in der Regel auch aussagen. So dürfte es ebenfalls der Frau ergehen, die den Wettermoderator Jörg Kachelmann beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben. Aufgabe der Richter wird es sein zu klären, was an dem fraglichen Tag im Februar geschehen ist. Dabei wird der Eindruck, den die Frau vor Gericht hinterlässt, von grosser Bedeutung sein.
«Aber wie wollen Sie als Opfer authentisch sein?», bringt Schellong das grundsätzliche Problem der Strafverfolgung bei Sexualdelikten auf den Punkt. Wirke die Frau zu nüchtern, zu sachlich, glaube man ihr oft nicht. Erscheine sie sehr emotional, werfe man ihr vor, auf Rache aus zu sein. Die Situation sei oft sehr komplex, vor allem wenn es sich bei dem mutmasslichen Täter um den ehemaligen Partner, den Ex-Mann, den Vater der Kinder handele. Leichter sei es im Fall einer Vergewaltigung durch einen Fremden.
Betroffenen Frauen rät Schellong, auf jeden Fall Nebenklage einzureichen und sich einen guten Anwalt zu suchen. Als Nebenklägerin bekomme sie umfassende Informationen und habe auch Einblick in die Akten. Ein erfahrener Anwalt könne sie auf ihre Aussage vorbereiten. Um diese zu überstehen, solle sie sich auf die Gegenwart konzentrieren, möglichst klar und geordnet bleiben und versuchen, sich an Dingen, an positiven Gedanken festzuhalten.
Wichtig seien auch Richter, denen das Problem bei einem solchen Strafverfahren bewusst sei. Im Idealfall kündige ein Richter im Detail an, was er fragen wolle, denn: «Traumatisch sind die Dinge immer dann, wenn sie unvorbereitet eintreffen.»
Viele Fälle werden gar nicht angezeigt
Nach einer 2004 vom Bundesfamilienministerium veröffentlichten Untersuchung hat fast jede siebte Frau in Deutschland schon einmal sexuelle Gewalt erlebt. Nur etwa fünf Prozent haben überhaupt Anzeige erstattet. Eine EU-weite Studie, für die nationale Statistiken für den Zeitraum 2001 bis 2007 ausgewertet wurden, ergab, dass jährlich etwa 8000 Vergewaltigungen in Deutschland angezeigt werden. In 1400 Fällen pro Jahr wurde Anklage erhoben, die Verurteilungsquote lag bei 13 Prozent.
Die Studie eines Forscherteams der Londoner Metropolitan University zeigt ausserdem, dass falsche Beschuldigungen nur ein Randproblem sind. «Entgegen der weit verbreiteten Stereotype, wonach die Quote der Falschanschuldigungen bei Vergewaltigungen beachtlich ist, liegt der Anteil bei nur drei Prozent. Auch in anderen Ländern ist das Problem Falschanschuldigung marginal und rangiert zwischen 1 bis 9 Prozent», fanden die Wissenschaftlerinnen Corinna Seith, Joanna Lovett und Liz Kelly heraus.