Härtere Massnahmen«Ausgangssperre? Wir müssen nachziehen»
Immer mehr europäische Länder verhängen im Kampf gegen das Virus eine Ausgangssperre. Die Schweiz müsse nachziehen, rät der Tessiner Arzt für Infektiologie Andreas Cerny.
Italien, Frankreich, Spanien, Österreich und Belgien: Diese fünf EU-Staaten haben bereits eine landesweite Ausgangssperre verhängt. Das heisst: Alle Bürger bleiben zu Hause. Nur wer seine Hunde ausführt, einkaufen geht oder zur Arbeit fährt, darf nach draussen.
Die Schweizer Regierung hat bislang auf diese drastische Einschränkung des Alltagsleben verzichtet. Doch wie lange noch? Trotz dem Lockdown, den der Bundesrat am Montag beschlossen hat, sind hierzulande noch immer grosse Menschengruppen unterwegs. In der Stadt Zürich hat die Polizei deshalb angekündigt, Gruppen ab 15 Personen nicht länger zu tolerieren.
Der Nidwaldner Kantonsarzt Peter Gürber glaubt: «Wenn man sich nicht an die Massnahmen des Bundesrats hält, wird die Ausgangssperre kommen.» Er hofft, dass es in der Gesellschaft rasch zu einem Umdenken kommt und die Menschen freiwillig zu Hause bleiben.
«Wir müssen nachziehen, auch wenn es schmerzhaft ist»
Andreas Cerny, Tessiner Arzt für Infektiologie und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Bern, rät zur Einführung der Ausgangssperre in der Schweiz. «Es ist nicht gut, wenn Kinder zusammen draussen spielen, sich gegenseitig anstecken und schliesslich ihre Eltern infizieren.» Die Schweiz müsse nachziehen, auch wenn es schmerzhaft und unbequem sei.
Während der Epidemie hätten sich bislang die Worst-Case-Szenarien bewahrheitet. Im Tessin zeige sich mit einer Verzögerung von zehn Tagen die gleiche Entwicklung wie in der Lombardei, wo die Spitäler ihre Kapazitätsgrenzen überschritten hätten und die Kirchen zum Teil mit Särgen gefüllt seien. «Wir befinden uns voll in der exponentiellen Phase der Hospitalisationen», sagt Cerny. Er empfiehlt eine Regelung wie in Italien.
Dort darf nach wie vor nur raus, wer bescheinigen kann, dass er zur Arbeit muss, und das nur dann, wenn er nicht COVID-19 positiv oder in Autoquarantäne ist. Eine Person pro Haushalt kann einmal am Tag einkaufen oder zur Apotheke gehen. Im Notfall darf man das Haus ebenfalls verlassen, und Hundebesitzer dürfen den Hund ausführen. Das Verhalten der Bevölkerung wird kontrolliert und Widerhandlungen werden sehr hart bestraft.
Auch Marina Moreno vom Datenunternehmen Novalytica in Bern, Ökonom Nikil Mukerji von der Ludwig-Maximilians-Universität München und Risikoforscher Adriano Mannino von der Parmenides Stiftung in München-Pullach fordern in der Schweiz, Österreich und Deutschland eine sofortige Ausgangssperre. Ohne sofortige drastische Massnahmen würde die Schweiz direkt in die italienische Katastrophe laufen, wo die Spitäler heillos überlastet seien. Sie haben eine Petition lanciert.
«Dann können die Patienten nicht mehr gerettet werden»
«Jeder Tag, an dem sich das Virus explosionsartig weiterverbreitet, werde Menschenleben kosten», schreiben sie. Um die Kontrolle über die Virenherde zurückzugewinnen, benötigten wir sofort eine komplette Stilllegung der öffentlichen Aktivitäten. «Es bleibt nur noch eine Massnahme: eine sofortige Ausgangssperre.» Die Leute dürften das Haus nur noch aus drei Gründen verlassen:
1. für Lebensmittel und Medizinisches
2. um Mitmenschen zu helfen
3. für unaufschiebbare Arbeit
Gemäss einer Prognose des Datenunternehmens Novalytica wird bei der aktuellen Wachstumsrate der Corona-Fälle von täglich 36 Prozent die freien Kapazitäten in Schweizer Spitälern in wenigen Tagen erschöpft sein. «Sind die Kapazitäten erschöpft, werden Menschen, die unter normalen Umständen gerettet werden könnten, auf den Intensivstationen aussortiert werden müssen. Das ist in Italien längst bittere Realität.»
«Dann drohen mehr Depressionen»
SVP-Nationalrat Thomas Aeschi ist dezidiert gegen eine Ausgangssperre: «Schweizer haben ein hohes Mass an Eigenverantwortung und können die Lage selber einschätzen.» Man könne den Bürgern doch nicht verbieten, mit dem Hund rauszugehen oder mit den Kindern durch den Wald zu laufen. Ansonsten drohten eine Zunahme von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. «Ich rate jedem, mit dem nötigen Abstand zu Mitmenschen täglich eine halbe Stunde rauszugehen. Das stärkt unser Immunsystem.» Würden sich dennoch grössere Menschengruppen bilden, wäre die Polizei schnell zur Stelle, wie das etwa in der Stadt Zürich der Fall war.
Auch der Präsident des Weltärzteverbandes, Frank Ulrich Montgomery, hält Ausgangssperren nicht für ein geeignetes Mittel im Kampf gegen das Coronavirus. Zudem habe sich in Italien gezeigt, dass dieses Mittel nicht funktioniere.
Das Bundesamt für Gesundheit war für eine Stellungnahme bislang nicht erreichbar.
Aufruf auf Twitter
Auch auf Twitter wird der Ruf nach Ausgangssperren laut. Unter dem Hashtag #AusgangsSperre fordern verschiedene User härtere Massnahmen, um die Epidemie einzudämmen.