Erbkrankheit«Wir haben Angst, uns fortzupflanzen»
Ein Paar mit einer Erbkrankheit wünscht sich Nachwuchs. Doch es will das Risiko eines kranken Kindes nicht eingehen. Und hofft auf ein Ja am 5. Juni.
Ein Zimmer im Reihenhaus von Saskia und Xavier Baumann* steht leer. Schon viel zu lange. Sie träumte von einem Mädchen, er von einem Buben. Das Kind, das in dem Zimmer spielen und schlafen sollte, wäre jetzt einjährig. Bald schon käme ein Geschwisterchen dazu. Das perfekte Familienidyll, wie es sich das Paar ausmalte, ist aber längst nicht mehr wichtig. «Alles, was wir wollen, ist ein gesundes Kind», betonen die Baumanns.
Saskia und Xavier Baumann tragen beide das Gen für die Erbkrankheit Muskeldystrophie Typ 1 in sich. Die Krankheit äussert sich durch eine langsam fortschreitende Muskelschwäche. Weitere Symptome sind grauer Star, Hodenschwund, Herzrhythmus-, Sprech- und Schluckstörungen, Tagesmüdigkeit, Schlaf-Apnoe sowie Beeinträchtigungen des Gehörs und der Verdauung.
Kind könnte früh sterben
Die 31-jährige Saskia spürt nur leichte Symptome: «Wenn ich jemandem die Hand gebe, kann ich sie manchmal danach schlecht lösen.» Ihr 37-jähriger Mann ist symptomfrei. Doch von Generation zu Generation bricht die Krankheit früher aus und ist stärker ausgeprägt.
«Wir haben Angst, uns auf natürlichem Weg fortzupflanzen», sagt Saskia Baumann. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Nachwuchs betroffen ist, liegt bei 75 Prozent. Im schlimmsten Fall könnte ihr Kind wegen schwerer Atemprobleme früh sterben oder körperlich und geistig behindert sein. Diese Risiken will das Paar nicht eingehen: «Wir wollen unserem Kind eine solche Krankheit nicht zumuten oder Vorwürfe von ihm ertragen müssen.» Auch solle sie später niemand fragen, warum sie trotz der Möglichkeiten der modernen Fortpflanzungsmedizin nichts unternommen hätten.
«Das sind Zellhaufen, nicht Leben!»
Der einzige Weg zum Elternglück führt für die Baumanns über Spanien. Seit 2006 erlaubt das spanische Fortpflanzungsgesetz die Präimplantationsdiagnostik (PID, siehe Box). Im Fall des Paares würden mittels PID die kranken Embryonen aussortiert und diejenigen, die den Gendefekt nicht aufweisen, in die Gebärmutter eingepflanzt.
Dass die PID-Gegner an die Moral appellieren, kann das Paar nicht nachvollziehen. «Was ist verwerflicher: Einen Zellhaufen auszusortieren zu lassen oder eine Schwangerschaft auf Probe und dann einen Fötus zu töten?», fragt Xavier Baumann provokativ. Seine Frau doppelt nach: «Das sind Zellhaufen, nicht Leben! Kratze ich eine Hautkruste weg, sterben wahrscheinlich Hunderte Zellen mehr ab.»
Ungeborenes Kind kostet mehrere tausend Franken
Erste Schritte für die künstliche Befruchtung hat das Paar bereits unternommen. «Mein Ziel ist es, im Juli schwanger zu sein», sagt Saskia Baumann. Im April reisten sie für Gespräche und Tests in eine Klinik nach Valencia. «Dass Frauen dort zu 98 Prozent schwanger werden, hat uns überzeugt.» Um für die Behandlung mehrere befruchtungsfähige Eizellen zu gewinnen, beginnt sie demnächst eine rund zweiwöchige Hormontherapie. Baumann sagt, sie habe Respekt davor. «Ich frage mich, wie wohl mein Körper reagiert. Wird mir oft übel, werde ich zickig, wie wird das für meinen Mann?»
Im Zürcher Universitätsspital werden Ärzte die Therapie engmaschig kontrollieren. Sobald die Eier reif sind, müssen sie in der spanischen Klinik entnommen werden. «Dann dürfen wir keine Zeit mehr verlieren und müssen sofort einen Flug buchen», sagt Saskia Baumann. Unter einer 15-minütigen Vollnarkose werden ihr die Eier entnommen. Kosten wird die PID das Paar rund 10'000 Franken. Inklusive der Untersuchungen in der Schweiz, der Flüge nach Spanien und Hotelübernachtungen rechnet das Paar mit Ausgaben zwischen 15'000 und 20'000 Franken.
Diagnose war ein Hammerschlag
Dass sie einst auf die PID angewiesen sein würden, war für Saskia und Xavier Baumann nicht von Anfang klar. «Es war ein Hammerschlag sondergleichen», erinnert sich Saskia Baumann an den November 2015. Damals wollte sie sich einer Polkörperdiagnostik unterziehen. Bei der Methode, die in der Schweiz erlaubt ist, werden die Polkörper der Eizellen entnommen und genetisch untersucht. Doch für die Baumanns wäre die Methode ein Schuss ins Leere gewesen: Erst im Zusammenhang mit den Abklärungen erfuhren sie, dass auch Xavier Baumann Muskeldystrophie hat.
Das Paar hofft, dass das Stimmvolk am 5. Juni der Änderung des Bundesgesetzes über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung und damit der Präimplantationsdiagnostik deutlich zustimmt. Es gehe um die Chancengleichheit: Jedes Kind habe ein Recht darauf, gesund zur Welt zu kommen. Bei der Abstimmung müsse das Volk an die Jungen denken, sagt Saskia Baumann: «Das gilt vor allem für die älteren Menschen, die es nicht mehr interessiert, weil sie schon gesunde Kinder haben.»
*Namen geändert
Darum geht es bei der Abstimmung
Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) wird ein durch künstliche Befruchtung erzeugter Embryo genetisch untersucht, bevor er der Frau in die Gebärmutter eingesetzt wird. Am 5. Juni stimmt das Schweizer Volk ab, ob das heutige Verbot im Fortpflanzungsmedizingesetz aufgehoben werden soll. Künftig würde die PID bei Paaren, die Träger einer schweren Erbkrankheit sind, zugelassen. Heute sind Diagnosen auf einen Gendefekt erst während der Schwangerschaft möglich. Bestehen Hinweise auf eine Erbkrankheit, muss sich das Paar für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
Das geänderte Gesetz soll auch für Paare gelten, die auf natürlichem Weg nicht Eltern werden können. Durch die Auswahl von Embryonen mit guter Entwicklungsfähigkeit würde das Risiko für Fehlgeburten verringert. Die EVP und das überparteiliche Komitee «Nein zu diesem FmedG (Fortpflanzungsmedizingesetz)» haben gegen das revidierte Fortpflanzungsmedizingesetz das Referendum ergriffen.
Das Komitee besteht aus 50 Parlamentsmitgliedern von BDP, CVP, EDU, EVP, Grünen, SP und SVP. Die Gegner kritisieren, dass das Parlament bei allen künstlich gezeugten Embryonen Gentests zulassen will. Dadurch würden Menschen mit einer Behinderung zunehmend diskriminiert. Auch befürchten sie, dass Tür und Tor geöffnet werden für die Eizellenspende, die Embryonenspende, die Leihmutterschaft, das Design- oder Retterbaby sowie die Selektion nach Geschlecht.