Historiker«Wir haben verlernt, mit globalen Pandemien zu rechnen»
Die Schweiz leide am «pandemic gap», sagt ein Historiker. Er erklärt die unkoordinierte Corona-Politik damit, dass die Schweiz seit längerem keine grössere Krise durchmachen musste.
Darum gehts
«Die Schweiz ist seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den brutalen Auswirkungen globaler Pandemien verschont geblieben», sagt Kaspar Staub.
Deshalb leide sie an einer Wissenslücke beim Umgang mit Pandemien.
Wichtig sei deshalb, die Lehren aus Covid-19 zu ziehen.
Ineffizienter Kantönli-Geist, ein zögerlicher Bundesrat und allerlei Kommunikationspannen: Bei der Bekämpfung der Pandemie erntete die Regierung heftige Kritik. Mittlerweile ist die Schweiz ein Corona-Hotspot Europas. Wie bewerten Sie die bisherige Corona-Politik?
Da wir noch mittendrin stecken, hüte ich mich vor einer abschliessenden Beurteilung. Aber tatsächlich: Die Zahlen sehen im Moment nicht gut aus. Und die schwierige Zeit der Pandemie beginnt mit den kalten Monaten erst. Etwas finde ich besonders besorgniserregend.
Was?
Ein gewisser Teil der Bevölkerung scheint sich mit der eigentlich inakzeptabel hohen Zahl an täglichen Todesfällen zu arrangieren. Dabei sollten wir uns die Dimension von Covid-19 vor Augen halten: Bei den Todeszahlen dürften wir diejenigen der Russischen Grippe (1889) überholen.
Das heisst?
Die Russische Grippe war die zweitstärkste Pandemie, die die Schweiz bisher je erlebt hatte. Absolut starben damals rund 3000 Menschen. Natürlich war die Schweiz damals weniger dicht besiedelt. Aber auch im Verhältnis zur Bevölkerungszahl nähern wir uns mit Corona dieser Dimension an.
Sie sagen, dass die Corona-Politik in der Schweiz teils unkoodiniert wirkte, liege daran, dass die Schweiz seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine grössere Pandemie mehr durchlebt habe. Wie meinen Sie das?
Der Begriff «disaster gap» oder Katastrophenlücke stammt aus der Forschung zu Naturkatastrophen. Wir haben ihn auf Pandemien übertragen. Die Schweiz ist seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den harten und brutalen Auswirkungen globaler Pandemien – beispielsweise 1957, 1968, 1977, 2003, 2009 – verschont geblieben. Eine gute Portion Glück war da sicher auch dabei. Jedenfalls entsteht dadurch ein «pandemic disaster memory gap»: Das unmittelbare Erfahrungswissen ist aus der kollektiven Erinnerung verschwunden, die Schweizer Bevölkerung und die Politik haben verlernt, das Risiko einer Pandemie richtig einzuschätzen (siehe Box zur Spanischen Grippe).
Woran machen Sie das fest?
Das zeigte sich am Anfang der ersten Welle. Diejenigen Orte und Länder, die von Sars (2002/2003) oder der Schweinegrippe (2009/2010) damals stärker getroffen worden waren, reagierten schnell und mit harten Massnahmen. Und auch bei der Lockerung der Massnahmen waren sie viel zurückhaltender, während die Schweiz diese Erfahrung der Gefahr von zweiten Wellen – schon bei der Spanischen Grippe war diese verheerender als die erste – offenbar zu wenig berücksichtigte. Gerade auch im Pandemieplan, der sich wohl für die erste Corona-Welle bewährt hat, aber eher für ein einwellige Influenza-Pandemie ausgelegt ist.

Heisst «pandemic gap» auch, dass die verschonte und verwöhnte Schweizer Bevölkerung und die Politik verlernt haben, mit Krisen umzugehen?
Wir sollten die Krisenresistenz der Menschen nicht unterschätzen. Aber klar: In der Schweiz haben wir diesbezüglich ein Luxusproblem. Grosse Herausforderungen vergangener Generationen – denken Sie an jene, die den Zweiten Weltkrieg erlebt hat –, stellen sich uns nicht mehr in dieser Form. Darum haben wir zu einem Teil vergessen, mit globalen und einschneidenden Krisen wie Corona zu rechnen und umzugehen.
Finanzminister Ueli Maurer (69) ist das älteste Mitglied des Bundesrats. Auch er gehört zur «verschonten» Generation. Der «pandemic gap» scheint unausweichlich.
Einen Vorwurf kann man niemanden machen. Es ist menschlich, dass vieles, was weiter als zwei bis drei Generationen zurückliegt, aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet. Der einzige Ausweg ist, vergangene Pandemie-Erfahrungen im kollektiven Gedächtnis zu halten zu versuchen, um nachhaltig die gesellschaftliche Resilienz zu stärken. Das wird auch für die Nach-Corona-Zeit zentral werden, damit wir daraus Lehren ziehen können, für eine zukünftige ähnliche Herausforderung.
Was schlagen Sie vor?
Die Geschichte der Pandemien lehrt uns: Wenn die eine überstanden ist, kommt irgendwann bestimmt die nächste. Es muss uns gelingen, die Erfahrungen weiterzugeben, damit zukünftige Generationen die «lessons learned» auf den jeweils neuen Kontext anpassen können. Die nächsten zehn Jahre sind nicht das Problem, die Erinnerung an das Extremereignis Corona bleibt da ohnehin wach. Danach müssen wir es schaffen, das Risikobewusstsein am Leben zu halten.
Wie wäre es mit einem Schulfach Corona?
Ein ganzes Schulfach vielleicht nicht gerade. Covid-19 wird als historisches Extremereignis in die Geschichte eingehen und damit sicher auch in den Schulstoff. Die Schule wäre zur Vermittlung sicher ein guter Ansatz. Wir müssen aber auch die Erwachsenen erreichen. Zuerst müssen wir dazu aber wissen, was in den Corona-Jahren passiert ist und was wir daraus lernen sollten.
Dafür braucht es erst eine schonungslose Aufarbeitung der Schweizer Corona-Politik.
Nicht nur der Politik, sondern auch eine umfassende Aufarbeitung des gesamten Pandemie-Geschehens. Es wäre unverantwortlich, das, was wir jetzt erleben, nicht aufzuarbeiten, was aber sicher länger gehen wird. Wir können nach Corona nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Jetzt ist aber noch nicht der Moment dafür, jetzt müssen wir zuerst die nächsten Monate möglichst gut überstehen. Auch die Impfung wird die Pandemie nicht auf Knopfdruck beenden. Wir werden wohl noch länger mit gewissen Nachwirkungen zu tun haben. Sobald wir etwas Distanz zur ersten Welle gewonnen haben, braucht es aber eine sachliche und umfassende Aufarbeitung.
*Kaspar Staub forscht an der Uni Zürich unter anderem zu historischer Epidemiologie.
Spanische Grippe
Die Spanische Grippe forderte 1918/19 in der Schweiz rund 24’500 Todesopfer. Da die zweite Welle mit dem Landesstreik zusammenfiel, entwickelte sich die Gesundheits- auch zu einer Sozialkrise, wobei im kollektiven Gedächtnis die Spanische Grippe zuerst wenig Raum einnehmen konnte. Interessanterweise diskutierten Bund und Kantone damals über dieselben Mittel zur Pandemiebekämpfung wie heute. Im November 1918 beriefen Bund und Kantone eine Grippekonferenz ein. Auf der Traktandenliste: Masken, Schulschliessungen, Versammlungsverbote, Nothilfe für betroffene Unternehmen (Link zum Dokument).
«Die Diskussion ist fast ein Spiegelbild der heutigen Debatte», sagt Kaspar Staub. Dass diese Massnahmen wirken, sei schon damals bekannt gewesen. Jedoch habe wie heute ein kantonaler Flickenteppich an Massnahmen geherrscht. Was sollte die Schweiz für kommende Pandemien daraus lernen? «Eine Lektion daraus wäre, dass sich besonders auch bei beginnenden zweiten Wellen ein rasches und nicht allzu lokal gesteuertes Handeln auszahlt», sagt Staub. Neben den Gemeinsamkeiten zur Corona-Pandemie gibt es auch gewichtige Unterschiede bei der Spanischen Grippe: Es starben vor allem junge Männer zwischen 20 und 40 Jahren, die Bevölkerung war nach dem Ersten Weltkrieg geschwächt, und die Wissenschaft hatte noch wenig Kenntnis über Viren.