Weissrussland-Experte - «Wirtschaftssanktionen treiben Belarus weiter in die Abhängigkeit von Russland»

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Weissrussland-Experte«Wirtschaftssanktionen treiben Belarus weiter in die Abhängigkeit von Russland»

Die Empörung über die Verhaftung des Oppositionellen Roman Protassewitsch ist gross. Ein Experte erklärt, weshalb Sanktionen schwierig sind – und die Falschen treffen könnten.

Benno Zogg ist Weissrussland-Experte vom Center for Security Studies der ETH Zürich.
Der Handlungsspielraum für Sanktionen gegen den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenko ist gemäss Zogg beschränkt.
Weissrussland hatte eine Ryanair-Maschine auf dem Weg nach Vilnius in Minsk zur Landung gezwungen.
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Benno Zogg ist Weissrussland-Experte vom Center for Security Studies der ETH Zürich.

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Darum gehts

  • Schweizer und EU-Politiker fordern geschlossen harte Sanktionen gegen das Lukaschenko-Regime in Weissrussland.

  • Ein Experte warnt allerdings: Mit wirtschaftlichen Sanktionen würde die EU die belarussische Bevölkerung stärker treffen als die Machthaber.

  • Nichtsdestotrotz sei eine geschlossene Reaktion der EU zwingend.

Am Pfingstsonntag wurde ein Flugzeug der irischen Luftfahrtgesellschaft Ryanair auf dem Weg ins litauische Vilnius von weissrussischen Behörden gezwungen, in Minsk notzulanden. Weissrusslands Machthaber Alexander Lukaschenko wird verdächtigt, eine Bombendrohung inszeniert zu haben, um den Oppositionsaktivisten und Blogger Roman Protassewitsch, der sich im Flugzeug befand, auf weissrussischem Boden zu verhaften.

Der polnische Aussenminister Rau Zbigniew sprach offen von Staatsterrorismus unter Lukaschenkos Befehl. Auch diverse andere Staaten und NGOs verurteilten Lukaschenko scharf, lediglich Russland wiegelte ab (siehe unten). Benno Zogg, Weissrussland-Experte vom Center for Security Studies der ETH Zürich, ordnet die jüngsten Ereignisse ein.

Steht für Sie zweifelsfrei fest, dass die Flugzeugentführung von Lukaschenko angeordnet war? Dies lässt sich wohl nie restlos feststellen. Der Vorfall ist zweifellos von grosser Tragweite. Es ist möglich, dass das Vorgehen hochrangig angeordnet worden ist. Es könnten jedoch auch Missverständnisse in der Befehlskette zu genau diesem Vorgehen geführt haben. Wichtig ist: Die Verhaftung von Roman Protassewitsch ist nur das jüngste Zeichen verstärkter Repression, mit der die belarussische Führung seit Monaten die Zivilgesellschaft und freie Medien bedrängt.

Wie beurteilen Sie die internationalen Reaktionen? Verschiedene politische Führer in Europa haben sich empört gezeigt über dieses Ereignis. Umgehend wurde die Freilassung des Verhafteten und neue Sanktionen gegen das Regime gefordert. Dies ist nachvollziehbar. Offen bleibt, inwiefern solche Reaktionen eine Verhaltensänderung des Lukaschenko-Regimes bewirken können.

Heute Abend werden die EU-Staaten an einem Sondergipfel mögliche Konsequenzen diskutieren. Was können sie tun?Wahrscheinlich scheint eine erneute Ausweitung der Sanktionsliste. Diese umfasst bereits jetzt Kontosperrungen und Einreiseverbote gegen Dutzende Funktionäre und Unterstützer des Regimes. Nun könnten Vertreter der Luftfahrtbehörden oder der Luftwaffe von Belarus dazukommen. Die EU zögert nach wie vor, sektorale Sanktionen gegen ganze Wirtschaftszweige zu verhängen. Dies würde der Wirtschaft allgemein und den Belarussinnen und Belarussen schaden und gleichzeitig das Land weiter in die Abhängigkeit von Russland drängen.

Verliert die EU nicht das Gesicht, wenn sie nur halbherzige Sanktionen ausspricht? Der Affront ist ganz klar. Die belarussischen Behörden haben eigenmächtig gehandelt und mit internationalem Protokoll gebrochen. Eine Reaktion der EU ist zwingend. Der Drang und die Erwartung, hart und geschlossen zu reagieren, sind gross. Doch einerseits hat die EU in Belarus nur begrenztes Gewicht und dies würde offenkundig, wenn auch drastische Massnahmen ins Leere laufen würden. Zweitens würden Zwangsmassnahmen unweigerlich eine breitere Bevölkerung schädigen. Die politische und wirtschaftliche Elite in Belarus wüsste die Kosten von Sanktionen auf das Volk abzuwälzen. All diese Überlegungen müssen einbezogen werden, wenn die EU nun ihre Sanktions- und Belaruspolitik überarbeitet.

Wie stehen die Menschen im Land zu Lukaschenko? Hat er noch Unterstützung aus dem Volk? Nur eine Minderheit dürfte seinen Kurs noch befürworten. Gleichzeitig sind viele illusionslos, ihrer Stimme beraubt und sehen keine klare Alternative zum Regime. Lukaschenko hat zwar politische Reformen angekündigt, um mehr politische Akteure zuzulassen und auch seine Nachfolge längerfristig zu regeln. Er hält die Zügel in diesem Prozess aber fest in der Hand und zeigt keinerlei Ansätze für ernsthaften Dialog. Die grosse Unzufriedenheit und damit auch das Potenzial von Protesten bleiben dadurch bestehen.

Welche Perspektiven hat das Land unter Lukaschenko? Belarus ist derzeit von einer mehrfachen Krise betroffen. Den politischen Ereignissen und Proteste begegnet der Staat zunehmend autoritär und gewalttätig. Die Wirtschaftskrise aufgrund der Pandemie und die mangelnde Reformfähigkeit der belarussischen Wirtschaft verschärfen die wirtschaftliche Stagnation im Land. Die besten Leute würden am liebsten das Land verlassen oder haben dies bereits getan.

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