Schweizer Botschafter in der Ukraine: «Würden wir in einem Krieg das Tessin, Genf oder Basel fallen lassen?»

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Schweizer Botschafter in der Ukraine«Würden wir in einem Krieg das Tessin, Genf oder Basel fallen lassen?»

Claude Wild, Schweizer Botschafter in der Ukraine, erzählt 20 Minuten in Kiew, was er bei Angriffen und Stromausfällen tut und was er mit «pro Schweiz heisst pro Ukraine» meint.

Botschafter Claude Wild: «Welches Modell wollen wir denn für unsere Kinder: Putins Modell oder jenes, an dem wir seit dem Zweiten Weltkrieg arbeiten?»
Russland greift die ukrainische Hauptstadt wieder verstärkt an.
«Das ist ein neuer Schockmoment, mit dem die Bevölkerung in Kiew umgehen muss», sagt Botschafter Wild. «Sie hat begriffen, dass das die neue Realität sein wird, und bleibt widerstandsfähig.»
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Botschafter Claude Wild: «Welches Modell wollen wir denn für unsere Kinder: Putins Modell oder jenes, an dem wir seit dem Zweiten Weltkrieg arbeiten?»

Raphael Moser / Tamedia AG

Herr Botschafter Wild, in Isjum oder Balakleja waren viele NGOs zu sehen, die Essen an die hungernde Bevölkerung verteilten, aber keine Schweizer Hilfe. Wie kommt das?

Zum einen ist die Ukraine gross. Und zum anderen versehen wir nicht jedes Päckli mit einem Schweizer Logo, sondern geben das Geld lieber für Praktisches aus. Die Sichtbarkeit ist sekundär, Hauptsache, die Hilfe kommt dort an, wo sie gebraucht wird. 

Wo ist die Schweizer Hilfe denn sichtbar? 

Der Schwerpunkt in der jetzigen Phase liegt in den befreiten und neu befreiten Gebieten wie Chernihiw, Sumy und Charkiw. Dort sind unsere humanitären Teams, die in der Botschaft integriert sind, aktiv. Vielleicht haben Sie uns im Osten auch nicht gesehen, weil wir nicht in erster Linie auf Essenslieferungen fokussiert sind. Diese unterstützen wir indirekt, indem wir lokale NGOs finanziell unterstützen. Die sind am effizientesten. So hat etwa die «Federation of Jewish Communities of Ukraine» einen sehr guten Zugang und viele lokale Kontakte, ihre Nahrungs- und Hygienepakete werden an alle bedürftigen Ukrainerinnen und Ukrainer verteilt. Sie gehen auch in die Frontlinie-Städte, wo sie gerade die alten Leute unterstützen, die sich kaum bewegen können. 

Die Schweiz unterstützt eine jüdische NGO in der Ukraine – vor dem Hintergrund von Wladimir Putins Nazi-Lüge lach ich etwas auf den Stockzähnen. War das eine bewusste Wahl?

Nein, da machen wir keinen Unterschied. Wir unterstützen jene NGOs, die lokal am besten vernetzt sind. Aber zu Russlands Propaganda-Behauptungen will ich sagen, dass es eben genau das ist: eine Lüge. Wir wären doch die Ersten, die in der OSZE und im Europarat einen Nazi-Staat angeklagt hätten. Und wir hätten doch kein Kooperationsprogramm über mehr als zwanzig  Jahre, wenn die Ukraine wirklich von Nazis regiert würde.

«Wenn ein Aussenstehender verlangte, das Tessin, Genf oder Basel fallen zu lassen, weil alle kriegsmüde sind – würden wir das tun?»

Botschafter Claude Wild

Wo hilft die Schweiz direkt?

Unsere Spezialisierung ist momentan die Wasserversorgung. Die Wiederherstellung der Verteilzentren ist teuer und braucht Know-how. Auch wollen wir Fenster und Dächer für Isjum besorgen, denn dort ist die Lage dramatisch und die Zerstörung brutal. Dann werden Hunderttausende Generatoren für Städte wie Charkiw, Mykolaiew oder Saporischschja gebraucht. Kommt die medizinische Versorgung hinzu – inklusive der psychologischen Unterstützung, die nicht unterschätzt werden darf. Deswegen unterstützen wir auch die Initiativen von Olena Selenska, der Gattin von Präsident Selenski, die sich mit ihrer Stiftung sehr für dieses Thema engagiert.  

Unsere Neutralität und die Weigerung, Munition nach Deutschland zu liefern, stossen vielerorts auf Unverständnis. Wie sehen Sie das? 

Es ist tatsächlich nicht einfach für die ukrainische Bevölkerung zu verstehen, was Neutralität im 21. Jahrhundert und in einem solchen Szenario wirklich heisst. Deshalb erklären wir immer wieder, was Neutralität bedeutet. Nämlich, dass wir nicht Teil eines Militärbündnisses sind, wir keine Waffen liefern oder uns mit eigenen Truppen an Konflikten beteiligen. So sieht es das Neutralitätsrecht vor. Doch wir sind pro Schweizer Werte und Interessen und das heisst in diesem Fall pro Einhaltung des Völkerrechts und pro Ukraine. Deshalb haben wir als neutrales Land auch die EU-Sanktionen gegen Russland grösstenteils übernommen.

«Welches Modell wollen wir denn für unsere Kinder?»

Botschafter Claude Wild

Pro Schweiz heisst pro Ukraine – wie meinen Sie das?

Die Werte, die in unserer Verfassung verankert sind, sind genau die Werte, welche die Ukraine jetzt verteidigt. Wenn diese in der Ukraine zusammenfallen, rückt die Bedrohung der Rechtslosigkeit näher an uns heran. Und unsere Sicherheit ist jetzt schon angegriffen worden: Die Sicherheitsarchitektur Europas hat sich am 24. Februar für immer verändert. Jetzt gibt es kein Vertrauen mehr und alle rüsten auf. Dabei haben wir massiv in diese Architektur investiert. Kommt dazu: Dieser Krieg ist auch ein Angriff auf unseren Wohlstand. Die hundert Schweizer Firmen, die in die Ukraine investiert haben und deren Einrichtungen zerbombt wurden – sie sind vom Krieg direkt betroffen. Und wir alle spüren die Auswirkungen des Krieges zum Beispiel mit der drohenden Energiekrise. Dieser Krieg geht uns alle an.

Viele denken aber genau das: Die Schweiz soll nicht hineingezogen werden.

Wenn 40 Millionen Ukrainer in eine unfreie Welt gezogen werden, erhöht das die Bedrohungslage auch gegen die Schweiz und gefährdet das Projekt der freien Gesellschaft auf dem europäischen Kontinent. Und da ist die Schweiz sicher nicht ohne Meinung. Welches Modell wollen wir denn für unsere Kinder: Putins Modell oder jenes, an dem wir seit dem Zweiten Weltkrieg arbeiten? Es geht um freie Bürgerinnen und Bürger mit gleichen Chancen und um einen Staat, der dem Volk dient, und nicht das Gegenteil.

Mit der Energiekrise werden Stimmen lauter, die Verhandlungen um jeden Preis fordern. 

Stellen wir uns vor, die Schweiz wäre in dieser Lage und ein Aussenstehender würde verlangen, das Tessin, Genf oder Basel fallen zu lassen, weil alle kriegsmüde sind. Würden wir das tun? Etwas Empathie und Realitätssinn sind vonnöten. Natürlich sollte der Krieg so schnell wie möglich enden – aber auf welcher Basis und was kann überhaupt verhandelt werden, wenn man von Frieden spricht? Russland will die Kapitulation der Ukraine und die Ukraine will als Land und Nation überleben und ihr international anerkanntes Territorium zurück, was im russischen Narrativ eine Niederlage wäre. In dieser Blockade scheinen Friedensgespräche im Moment unrealistisch. Allenfalls wäre ein temporärer Waffenstillstand möglich, wenn beide Seiten irgendwann erschöpft sind. Für mich als Botschafter geht es bis dahin allein um die Frage, wie wir der ukrainischen Bevölkerung bestmöglich helfen können.

«Russische Propaganda hat das negative Bild der Ukraine über Jahre gefördert.»

Botschafter Claude Wild

Viele sehen die Ukraine weiter als korruptes Land. Sie sind schon lange in Kiew. Was können Sie zur Korruptionsbekämpfung sagen?

Es gibt einen starken politischen Willen, den es früher nicht gab. Präsident Selenski beschönigt die Korruption im Land nicht, sondern nennt sie «den inneren Feind», der systematisch und endemisch ist. Allein im Justizsystem sollten eigentlich alle Richter neu geprüft und allenfalls ersetzt werden. Es ist ein langer Prozess, doch die Fortschritte und Reformvorhaben sind unbestritten da. Es gibt ein De-Oligarchierungsgesetz, auch wenn es nicht perfekt sein mag. Die Dezentralisierung kommt voran und auch die hohe Digitalisierung ist eine Tatsache – ihr Nebeneffekt ist nicht nur mehr Effizienz, sondern auch die Korruptionsbekämpfung. Um mehr ausländische Investoren zu gewinnen, geht das nur, wenn klar ist, dass man in dem Land sicher Geschäfte machen kann und die Investments geschützt sind. Die Ukraine ist sich dieser Realität völlig bewusst. 

Die Digitalisierung ist tatsächlich beeindruckend. Die Schweiz scheint gar hinterherzuhinken.

Ja, die Digitalisierung in der Ukraine ist beeindruckend. Leute, die die Ukraine nicht kennen und von der russischen Propaganda beeinflusst sind – diese hat das negative Bild des Landes über Jahre gefördert –, haben immer noch ein Bild der «Trippel-C»-Ukraine: Conflict, Corruption, Chernobyl (Konflikt, Korruption, Tschernobyl). Ich aber habe eine neue Realität angetroffen, die «Tripel-O»-Ukraine: Openness, Opportunities, Originality (Offenheit, Gelegenheiten, Originalität). Ganz zu schweigen von den vielen Frauen in führenden Positionen. Dies ist ein dynamisches und kreatives Umfeld, das jetzt Russland durch den Krieg versucht zu zerstören.

«Ein neuer Schockmoment, mit dem die Bevölkerung in Kiew umgehen muss.»

Botschafter Claude Wild

Sind der ukrainische Wohlstand und «way of life» der wahre Grund für diesen Krieg?

In der russischen Militärdoktrin ist festgehalten, dass die «Orange Revolution» eine Gefahr für das Land ist, zumal diese einen Dominoeffekt nach sich ziehen kann. Und die Ukraine hatte gleich zwei solcher Aufstände. Wenn sie aus diesen auch noch erfolgreich herausgeht, kann das schon einen Dominoeffekt haben in den autokratisch geführten Nachbarländern wie Russland und Belarus. Dass die Soldaten aus Zentralrussland und Sibirien in der Ukraine WC-Schüsseln und Waschmaschinen abzügeln wollten, sagt vieles aus über die Realitäten in gewissen Regionen  Russlands.

Die ukrainische Hauptstadt wird wieder angegriffen. Wie erleben Sie die momentane Situation?

Unbewusst dachten wohl viele, dass mit der Befreiung von Kiew im Frühjahr das Schlimmste überstanden sei. Doch der Angriff auf Winniza im Juli machte klar, dass Russland tatsächlich in jedem Moment überall in der Ukraine zuschlagen kann. Und jetzt sind die iranischen Drohnen, diese Billigbomben, dazugekommen. Das ist ein neuer Schockmoment, mit dem die Bevölkerung in Kiew umgehen muss. Sie hat begriffen, dass das die neue Realität sein wird, und bleibt widerstandsfähig. Man will sich das Leben schlicht nicht vermiesen lassen, was auch ein Zeichen des Widerstandes gegenüber dem Aggressor ist.

«Heute habe ich mich zu Hause bei Kerzenlicht rasiert.»

Botschafter Claude Wild

Wie wird sich der Winter auf diesen Kampfeswillen auswirken?

Auch die Stromausfälle gehören zur neuen Realität. Und wenn die Heizungen bei minus 20 Grad ausfallen, sind das Extremsituationen, die das Potenzial haben, dass die Menschen die Städte massenhaft verlassen. Deswegen versucht man jetzt, möglichst viele mobile Luftabwehrsysteme zu erhalten, um die Kraftwerke und Stromverteiler zu schützen. Der gezielte Bombenterror gegen diese Installationen gehört ja zur neuen Kriegstaktik, da Russland mit den Bodentruppen bis jetzt weitgehend gescheitert ist. Dabei ist die Zerstörung der Energieversorgung vor dem Winter eine massive Verletzung des internationalen humanitären Rechts, zumal das allein auf die Zivilbevölkerung abzielt und keinen militärischen Wert hat. Es ist eine verbotene Art der Kriegsführung, das muss man klar und deutlich sagen. 

Die Stadt ruft zum Energiesparen auf. Was tun Sie dafür in der Botschaft?

Ich hätte Sie für das Gespräch normalerweise im Salon und nicht im Büro empfangen. Doch dort ist es momentan zu kalt, weil wir nicht mehr alles heizen. Und wir sind von den Stromabschaltungen, die es täglich in den verschiedenen Stadtteilen gibt, nicht ausgenommen. Heute habe ich mich zu Hause bei Kerzenlicht rasiert. Mit dem Generator könnten wir immerhin auf der Botschaft autonom funktionieren. Doch solange unser Wirken hier einen Mehrwert hat, passen wir uns an und bleiben auch unter widrigen Umständen.

«Sind wir abgehärtet? Nein.»

Botschafter Claude Wild

Sind Sie und Ihr Team im letzten Halbjahr abgehärtet? 

Vielleicht etwas philosophischer, bewusster, was wirklich wichtig ist im Leben. Der Krieg hinterlässt viele Eindrücke – sowohl der Horror, den man sieht, als auch die positiven Dinge, die das Beste aus Menschen hervorbringen und einem Mut machen. Aber sind wir abgehärtet? Nein. Eher haben wir ein besseres Verständnis für das Ganze erhalten und die Überzeugung, dass auch unser Land eine Rolle spielen muss. Und wir sind nun mal die Vertreter der Schweiz, und deswegen ist unser Platz hier.

Sie haben keine Angst, wenn der Luftalarm losgeht?

Es mag blöd klingen, aber ich habe keine Zeit dafür. Oder dann ist es Verleugnung, was ja auch eine Art Selbstschutz ist. Aber ich ziehe aus Reflex die Vorhänge wegen möglicher Schrapnelle und Glassplitter. Das ist ja eigentlich lächerlich, weil es im Ernstfall nichts nützen würde.

Die Nukleardrohungen von Herrn Putin machen Sie in Kiew nicht nervös?

Wir haben die Szenarien besprochen. Doch wenn wir uns nur noch auf Schreckensszenarien vorbereiten, können wir unsere Arbeit nicht mehr machen. Vielleicht ist da tatsächlich die von Ihnen angesprochene Abhärtung im Spiel. Alles soll im Verhältnis und der Worst Case nicht über allem stehen. 

Zu Botschafter Claude Wild

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