Tricks, Täuschung, Provokation und Propaganda - Was hinter den Provokationen im Schwarzen Meer steckt

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Tricks, Täuschung, Provokation und PropagandaWas hinter den Provokationen im Schwarzen Meer steckt

Moskau will im Schwarzen Meer ein britisches Kriegsschiff mit Schüssen und Bomben vor der Krim vertrieben haben. London dementiert. Was hat es mit dem Zwischenfall auf sich?

Die «HMS Defender» am 18. Juni auf dem Weg nach Odessa.

Die «HMS Defender» am 18. Juni auf dem Weg nach Odessa.

REUTERS

Angriffige Worte aus Moskau: «Wir können an die Vernunft appellieren und fordern, dass internationales Recht eingehalten wird», so Vize-Aussenminister Sergej Rybakow. «Wenn das nichts nützt, können wir Bomben fallen lassen – und zwar nicht nur auf den Kurs, sondern auf das Ziel direkt gerichtet, wenn es die Kollegen sonst nicht verstehen.»

Am Mittwoch waren im Schwarzen Meer russische Jets und Schiffe mit dem britischen Zerstörer «HMS Defender» aneinandergeraten (siehe Box unten). Jetzt hat Moskau ein Video als Beleg für die angeblich gewaltsame Konfrontation veröffentlicht.

Die Konfrontation aus russischer Sicht. «Der Eindringling (oder eher Kriminelle) floh während fast 30 Minuten aus unseren Gewässern. Gut, ist er wohlauf entkommen», so das russische Boulevardblatt KP.ru.

Russisches Verteidigungsministerium

Doch Pech für Moskau: Auf der «HMS Defender» war neben der BBC auch ein Reporter der «Daily Mail» an Bord. Die russischen Angaben über vier abgeworfene Splitterbomben seien «ziemlich sicher Propaganda, da diese Art von Munition weder von der Besatzung der Defender gesehen oder gehört noch von den Hightech-Sensoren erfasst wurde», schreibt dieser. BBC-Reporter Jonathan Beale berichtet von Schüssen «ausser Reichweite». Die «Defender» habe - entgegen der russischen Darstellung - den geplanten Kurs beibehalten, so Beale.

«Defender hielt Kurs bei»

Das heisst nicht, dass die Lage nicht gefährlich angespannt gewesen wäre. «Zeitweise waren zwanzig russische Jets über dem Kriegsschiff», so Beale. In seinen Aufnahmen ( im Tweet unten) ist auch der Funk der russischen Küstenwache klar hörbar: «Wenn Sie Ihren Kurs nicht ändern, wird geschossen». Die «HMS Defender» habe den geplanten Kurs entgegen der russischen Darstellung beibehalten, so Beale.

Was es mit dem Zwischenfall im Schwarzen Meer wirklich auf sich hat, dürfte sich in den nächsten Tagen noch deutlicher zeigen, schreibt die «Süddeutsche Zeitung». Auf jeden Fall hat er zwei Dinge verdeutlicht.

Politische Mission, russische Reaktion

Nämlich, dass die Mission der HMS Defender im Schwarzen Meer letztlich eine politische war - wobei man «Präsenz markieren, Kiew unterstützen und Moskau daran erinnern will, dass die Annexion der Krim weder vergessen noch akzeptiert wird», wie Russland-Experte Mark Galeotti auf Twitter schreibt.

Und dass Russland weit zu gehen bereit ist, um die eigenmächtig festgelegte Grenze in den Gewässern vor der Krim zu verteidigen - und die Präsenz des westlichen Verteidigungsbündnis NATO im Schwarzen Meer insgesamt herausfordert.

Gefälschte Trackingdaten der «HMS Defender»?

Tatsächlich scheint Russland das britische Kriegsschiff schon vor einigen Tagen ins Visier genommen zu haben. Das legt ein Bericht der auf Seefahrt spezialisierten Nachrichtenseite des «US Naval Institutes» nahe.

Demnach zeigten die Trackingdaten zweier NATO-Schiffe, der «HMS Defender» und der niederländischen «HMLNS Evertsen», dass sich beide Schiffe am 18. Juni nahe dem russischen Marinestützpunkt bei Sewastopol aufhielten.

In Wahrheit aber lagen sie in Odessa vor Anker, was mehrere Livecams einwandfrei belegen. «Jeder in Odessa konnte die Schiffe sehen», schreibt «USNI News» weiter. Es sei ziemlich klar, dass die Tracking-Angaben manipuliert worden seien.

Am 18. Juni zeigte der Tracker die Position der «Defender» bei Sewastopol, doch  sie lag in Odessa, wie Livecams gemäss eines Berichts von USNI News zeigen.

Am 18. Juni zeigte der Tracker die Position der «Defender» bei Sewastopol, doch sie lag in Odessa, wie Livecams gemäss eines Berichts von USNI News zeigen.

Screenshot Twitter

«Aggressiven Kurs auf Schwarzmeerflotte vorgetäuscht»

Das sieht auch Russland-Experte Galeotti so: Mit sogenanntem GPS-Spoofing habe man vortäuschen wollen, dass die beiden NATO-Schiffe «aggressiv Kurs auf die Basis der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol nehmen». Unter Spoofing versteht die Informationstechnik verschiedene Täuschungsmanöver in Computernetzwerken zur Verschleierung der eigenen Identität.

«GPS-Spoofing werde in Russland im Umfeld von sensiblen Objekten schon länger eingesetzt, sagt Osteuropa-Experte Janis Kluge zu 20 Minuten. «Taxifahrer in Moskau haben immer wieder das Problem, dass ihr GPS sie in der Nähe des Flughafens anzeigt, wenn sie sich dem Kreml nähern.»

Ob es sich bei den falschen Trackingspuren wirklich um eine gezielte Manipulation handelt, kann kaum völlig einwandfrei bewiesen werden. Doch es passt nur zu gut zur Botschaft, die Moskau auch nach dem Zwischenfall von diesem Mittwoch dem heimischen Publikum vermitteln wollte: Wir haben die Briten mit Waffen vertrieben und wehren uns gegen westliche Aggressionen (ob echte oder erfundene).

Ausschnitt aus dem Video des russischen Verteidigungsministeriums: Sicht aus einem Kampfjet auf die «HMS Defender» am 23. Juni 2021.

Ausschnitt aus dem Video des russischen Verteidigungsministeriums: Sicht aus einem Kampfjet auf die «HMS Defender» am 23. Juni 2021.

Ministry of Defence of the Russian Federation/Handout via REUTERS

Eine Botschaft für das heimische Publikum

Stimmung machen gegen das Ausland – vor dem Hintergrund anstehender Parlamentswahlen, einer schwächelnden Regierungspartei und der ungebremsten Corona-Krise ein Ablenkungsinstrument, das nicht nur Russland gerne nutzt.

Angekommen ist die Botschaft, wie russischen Medien zu entnehmen ist: Der Zwischenfall sei provoziert worden, um die in Genf erreichte Annäherung zwischen den USA und Russland zu verhindern, wird ein Senatssprecher zitiert. «Der Eindringling (oder eher Kriminelle) floh während fast 30 Minuten aus unseren Gewässern. Gut, ist er wohlauf entkommen», so ein Boulevardblatt. Ein weiteres Medium schreibt von einer «typisch britischen Provokation» und zitiert einen Offizier: «Die Briten sind professionell - trotz ihrer baufälligen Flotte.»

Für solche Botschaften nimmt der Kreml offenbar auch in Kauf, dass die Lage tatsächlich ausser Kontrolle gerät. Denn: «Ungewollte Eskalationen sind in den NATO-Russland-Beziehungen ein grosses Risiko, auch weil die Gesprächskanäle nur noch zum Teil intakt sind», sagt Russland-Experte Kluge. «Das macht eine etwaige Deeskalation schwieriger. Im Schwarzen Meer sind die Gefahren besonders gross, weil die Annexion der Krim zu einer instabilen Ausgangslage geführt hat.»

Zwei Sichten, zwei Versionen

Aus Moskauer Sicht war der britische Zerstörer «HMS Defender» am Mittwoch drei Kilometer weit in russisches Hoheitsgewässer gefahren. Aus britischer Sicht war die «HMS Defender» auf sogenannt «harmloser Durchfahrt» durch ukrainische Gewässer im Einklang mit internationalem Recht. Russland dagegen sieht die Gewässer in der Nähe der völkerrechtlich annektierten Halbinsel Krim als eigenes Territorium an.

Nach missachteten Warnungen habe die russische Küstenwache deshalb Warnschüsse abgegeben und Jets präventiv vier Bomben «auf den Kurs des Schiffes» abgeworfen, so das russische Verteidigungsministerium am Mittwoch. Die Briten dementierten: Es habe zwar entfernte Schüsse gegeben, doch diese hätten zu einer angekündigten Militärübung der Russen gehört.

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