Der verdrängte Völkermord

Publiziert

GedenktagDer verdrängte Völkermord

Todesmärsche durch die Wüste, Vergewaltigungen und Exekutionen: 1915 erreichte der Völkermord an den Armeniern seinen Höhepunkt. Noch heute will die Türkei nichts davon wissen.

Daniel Huber
von
Daniel Huber

In der ganzen Welt gedenken Armenier am 24. April des Völkermords an ihren Vorfahren. An jenem Tag begannen 1915 die Massaker an den anatolischen Armeniern, die mit der nahezu vollständigen Vernichtung der armenischen Bevölkerung und Kultur im Osmanischen Reich endeten.

1915 tobte der Erste Weltkrieg; auf den Schlachtfeldern der Westfront fand ein beispielloses Gemetzel statt. Auch das Osmanische Reich, der Vorläufer der heutigen Türkischen Republik, stand auf Seiten der Mittelmächte im Krieg. Im Januar wurden die Truppen des Sultans im Osten von der russischen Armee vernichtend geschlagen. Die türkische Führung machte nun die christlichen Minderheiten, allen voran die Armenier, für die verheerende Niederlage verantwortlich; man warf ihnen vor, Russland zu unterstützen.

Planmässige Vertreibung und Ermordung

In der Tat hatten auf Seiten der Russen einige armenische Freiwilligenverbände gekämpft — ein willkommener Vorwand für die Partei der Jungtürken, die in Istanbul quasi diktatorisch regierte, ihre nationalistische Vision eines ethnisch und religiös homogenen grosstürkischen Staats zu verwirklichen. Die Überzeugung, die «armenische Frage» müsse nun endgültig gelöst werden, nahm überhand. Ab Ende Februar 1915 wurden die armenischen Soldaten der türkischen Armee entwaffnet, viele von ihnen wurden später erschossen.

Die planmässige Vertreibung und Ermordung der Armenier begann dann am 24. April 1915 mit einer Welle von Verhaftungen in Istanbul. Zahllose Hinrichtungen auf öffentlichen Plätzen folgten. Nach dieser Dezimierung der städtischen armenischen Elite begannen die Vertreibungen, Deportationen und Massaker im anatolischen Osten, wo die meisten Armenier lebten. Verbände der «Spezialorganisation» (Teskilat-i Mahsusa) — Banden von Kurden und eigens für diese Aufgabe begnadigten Häftlingen — trennten zusammen mit türkischen Einheiten die Männer von ihren Familien; die meisten wurden in der Nähe umgebracht, während die Frauen, Kinder und Alten deportiert wurden. Diese «Verschickung» (sevkiyat) endete in vielen Fällen in einem Todesmarsch, bei dem die Deportierten ohne Nahrung und Wasser in die syrische Wüste getrieben wurden, bis sie vor Hunger, Durst und Erschöpfung umkamen.

«Operation Nemesis»

Der Höhepunkt der Massenmorde fiel in die Jahre 1915 und 1916, doch auch danach starben in den Internierungslagern im Norden des heutigen Syrien noch zahlreiche Deportierte, und auch in Anatolien selber kam es noch bis in die Zwanzigerjahre hinein zu Massakern. Dabei waren nicht nur Armenier betroffen; auch die christlichen Minderheiten der Aramäer (Assyrer) und der Griechen wurden dezimiert. Insgesamt kamen bei diesem ersten Genozid des Zwanzigsten Jahrhunderts zwischen 300 000 und 1,5 Millionen Armenier um, wobei die höhere Zahl bedeutend näher bei der Wahrheit liegen dürfte. Möglicherweise bis zu einer halben Million Aramäer kamen ebenfalls ums Leben.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Sturz der Jungtürken wurden einige der Verantwortlichen für den Genozid vor Gericht gestellt und hingerichtet. Die Hauptschuldigen waren jedoch zuvor ins Ausland — vornehmlich nach Deutschland — geflohen. Dort holte sie indes der lange Arm der armenischen Rache ein: In der «Operation Nemesis» ermordeten armenische Attentäter mehrere prominente Jungtürken wie zum Beispiel den ehemaligen Innenminister Mehmet Talaat.

Genozid oder «Tragödie»?

Danach verlagerte sich der Kampf auf die politische Ebene. Seit Jahren bemühen sich armenische Organisationen um die offizielle Anerkennung der blutigen Ereignisse als Genozid gemäss der Definition der Uno-Völkermordkonvention. 22 Staaten, darunter die Schweiz, haben dies bisher getan — gegen den erbitterten Widerstand der Türkei. Fast hundert Jahre nach den Geschehnissen muss heute noch jeder mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen, der die offizielle türkische Lesart in Frage stellt, wonach es sich bei der Deportation der Armenier wohl um eine «Tragödie», aber letztlich um eine legitime Massnahme im Krieg gehandelt habe.

Es ist daher bereits ein leiser Fortschritt, wenn dieses Jahr erstmals in der Türkei eine Gedenkveranstaltung für die Armenier stattfinden soll, wie die Nachrichtenagentur SDA berichtet. In der Innenstadt von Istanbul wollen sich die Teilnehmer treffen, mit Kerzen und gewandet in schwarze Trauerkleidung. Es gehe darum, dass sich die Türken an solche Kundgebungen gewöhnen, sagte der Politologe Cengiz Aktar, der die Veranstaltung zusammen mit anderen Intellektuellen organisiert. Noch vor fünf Jahren hätte das Vorhaben wegen des Widerstandes der Nationalisten kaum stattfinden können — diesmal gebe es kaum Reaktionen. Dies, hofft Aktar, sei «auch Teil des Normalisierungsprozesses».

Armenischer Botschafter in Genf

In der Schweiz finden in allen drei Landesteilen Gedenkveranstaltungen statt. In Troinex GE besucht der armenische Botschafter in der Schweiz, der bekannte französische Chansonnier Charles Aznavour, eine Zeremonie und die Gedenkstätte auf dem Areal der armenischen Kirche.

(sda)

«Die vierzig Tage des Musa Dagh»

Der deutschböhmische Autor Franz Werfel (1890-1945) erinnerte in seinem 1933 veröffentlichten historischen Roman «Die vierzig Tage des Musa Dagh» an den Genozid. Das Buch des jüdischen Schriftstellers, das den Widerstand von etwa 5000 Armeniern gegen die Türken auf dem Berg Musa Dagh bei Iskenderun schildert, wurde von den Nazis auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

(Wikipedia.org)

Deine Meinung zählt