Knast-Krise: Sollen «gute» Häftlinge früher entlassen werden?

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Volle GefängnisseExperte will mehr gemeinnützige Arbeit oder Fussfessel statt Haft

Die Hälfte der Inhaftierten sitzt im Gefängnis, weil sie eine Busse nicht bezahlt hat. Justizvollzugsexperte Benjamin Brägger forderte neue Bestrafungsformen und kürzere Haftstrafen bei guter Führung.

Darum gehts

  • Um die überfüllten Schweizer Gefängnisse zu entlasten, fordert Justizexperte Benjamin Brägger ein Umdenken.
  • Haft könnte nicht die Antwort auf alle Straftaten sein. «Das ist, als würde man bei jeder Krankheit Aspirin verschreiben.»
  • Stattdessen brauche es neue Bestrafungsmethoden, Digitalisierung und einen Abbau bei den Gesetzen.

Herr Brägger, was droht der Schweiz, wenn es mit den Haftzahlen so weitergeht?

In der Deutschschweiz haben wir genug Plätze. In der Westschweiz sieht das etwas anders aus. Dort wird tendenziell härter bestraft, weshalb ungefähr seit 20 Jahren die Haftplätze knapp sind. Gibt es mehr Gefangene als Zellenplätze, werden die Gefängnisse einfach vollgestopft. So hat Frankreich seit über 20 Jahren immer überbelegte Gefängnisse. Das ist auch immer wieder Thema bei den Vereinten Nationen, weil die Haftbedingungen dadurch nicht mehr menschenrechtskonform sind.

Anfang der 90er-Jahre wurden in Zürich Notentlassungen durchgeführt, weil es eine akute Überbelegung gab. Der Aufschrei war gross, weil sich die Massnahme gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und der Gleichbehandlung stellte. So einfach ist es aber nicht. Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit, was wiegt nun höher?

Schwerpunkt Knast-Krise

20 Minuten beleuchtet in einer mehrteiligen Serie die Krise in den Schweizer Gefängnissen. Die ersten drei Teile sind am Montag, 6. Mai erschienen:
Volle Gefängnisse: Sollen «gute» Häftlinge früher entlassen werden?

Was führte damals in Zürich zur Überbelegung?

Da spielen viele Gründe zusammen. Internationale Krisenherde sind sicher einer. Damals war das der Zerfall Jugoslawiens und der daraus resultierende Krieg. Aber auch aus Sri Lanka kamen viele Menschen. Darunter viele junge Männer, die vor den Kriegen flüchteten. Bekanntlich ist der grösste Kriminalitätsfaktor, männlich und jung zu sein. Wenn diese Männer dann noch unbehütet in einem fremden Land mit fremder Kultur aufgewachsen sind, steigt das Risiko, kriminell zu werden, noch einmal.

Geldstrafen sind genau für die Schweizer Mittelschicht ein sinnvolles Mittel zur Bestrafung.

Was muss die Schweiz tun, damit es nicht wieder so weit kommt?

Wir brauchen mehr Alternativsanktionen. Das ist der wichtigste Hebel. Momentan gibt es nur Freiheits- oder Geldstrafe. Und die Hälfte der Inhaftierten sitzt im Gefängnis, weil sie eine Busse nicht bezahlt hat. Geldstrafen sind genau für die Schweizer Mittelschicht ein sinnvolles Mittel zur Bestrafung. Menschen an und unter der Armutsgrenze können die Busse nicht zahlen, während sie Menschen mit mehreren Millionen Franken auf dem Konto nicht wehtut.

Benjamin Brägger ist promovierter Jurist und seit 30 Jahren im Schweizer Freiheitsentzug tätig.
Benjamin Brägger ist promovierter Jurist und seit 30 Jahren im Schweizer Freiheitsentzug tätig.privat

Sanktionen wie gemeinnützige Arbeit und «Electronic Monitoring» werden zu selten eingesetzt. Natürlich kann kein Gewaltstraftäter in einem Pflegeheim arbeiten, aber bei Diebstählen oder unbezahlten Parkbussen macht das Sinn. Die eigene Freizeit für etwas Positives herzugeben, hat einen besseren Effekt auf die Menschen als ein paar Wochen Gefängnis und es ist erst noch billiger für den Staat.

Wieso wird das nicht öfter gemacht?

Mir scheint es teilweise so, als ob wir mit dem Freiheitsentzug alle Formen der Kriminalität bekämpfen wollen. Das wäre, als ob man einfach mal Aspirin bei allen Krankheiten verschreibt. Das kann gar nicht funktionieren. Die Sanktionen sollten mehr nach der Rückfallgefahr gewählt werden.

Bei guter Prognose könnte man Häftlinge nach der Hälfte der Strafe entlassen.

Was sind andere Forderungen?

Mehr oder frühere bedingte Entlassungen. Anstatt nach zwei Dritteln der Strafe könnte man Inhaftierte bei guter Prognose nach der Hälfte der Haftstrafe entlassen. Ausserdem werden stationäre Therapien zu schnell verhängt, weil der Richter glaubt, so auf der sicheren Seite zu sein. Ausserdem muss endlich digitalisiert werden. Im Moment passiert alles noch auf Papier.

Die Justiz arbeitet noch immer komplett mit Papier?

Ja. Ein eindrückliches Beispiel hierzu: Ein Kollege von mir, der in Bern arbeitet, sollte im Fall Brian ein Gutachten erstellen, das klärt, ob die Haftbedingungen menschenrechtskonform sind. Dafür ist dann ein kleiner Lieferwagen mit allen Bundesordnern von Zürich nach Bern gefahren. Gab es neue Beschwerden, ist der Fahrer mit den Akten zurück nach Zürich gefahren und hat die Unterlagen dann später wieder zum Gutachter nach Bern gebracht.

Wenn man Menschen wegen jedem ‹Hafechäs› einsperrt, kriegt man keine bessere Welt.

Die Justiz ist über Gesetze geregelt. Braucht es neue?

Bloss nicht! In den letzten 20 Jahren hat das Bundesrecht um 60 Prozent zugenommen. Damals hat die Politik das Strafrecht für den Wahlkampf entdeckt. Konservative wollen alles und alle bestrafen, Linke, Minderheiten und sogenannte Vulnerable schützen. Das ist per se löblich, nur werden so immer mehr soziale und Gesellschaftsfragen im Strafrecht geregelt, was zu immer mehr Aufwand führt. Gesetze zu erlassen ist einfach, diese aber zu vollziehen, mühsam und langwierig.

Was schlagen Sie vor? 

Ein Vorschlag könnte sein, dass das Bundesparlament in einer der vier Sessionen veraltete oder nicht mehr sinnvolle Gesetze abschaffen würde und in dieser Zeit keine neuen gemacht werden dürften.

Wir als Gesellschaft müssen uns fragen, in was für einer Welt wir leben wollen: in einer strafenden oder in einer, in der auch mal gewaltfreies, abweichendes Verhalten mitgetragen wird? Wenn man Leute wegen jedem «Hafechäs» einsperrt, kriegt man keine bessere Welt. Das zeigen auch Studien. Länder, die hohe Inhaftierungsraten haben, sind nicht sicherer. Eher im Gegenteil.

Sollten Häftlinge mit guter Prognose früher entlassen werden?

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Carolin Teufelberger (cat) arbeitet seit 2024 für 20 Minuten als Redaktorin beim Ressort News, Wirtschaft & Videoreportagen.

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