Frauenfeld Vergewaltiger Prozess: Inszeniert oder authentisch?

Publiziert

Angeklagter geständigTränen und Reue vor Gericht: Inszeniert oder authentisch?

Seit Dienstag steht in Frauenfeld ein Vergewaltiger vor Gericht. Wie im Fall Gisèle Pélicot in Avignon soll der Täter angeblich selbst Opfer sexueller Gewalt gewesen sein.

Seit Dienstag muss sich der knapp 40-Jährige vor Gericht in Frauenfeld verantworten.
Seit Dienstag muss sich der knapp 40-Jährige vor Gericht in Frauenfeld verantworten.20min/sbi

Darum gehts

  • Ein Mann steht in Frauenfeld vor Gericht wegen sexueller Übergriffe auf Kinder und Frauen.
  • Der Angeklagte zeigt Reue und behauptet, selbst Opfer sexueller Gewalt gewesen zu sein.
  • Ein ähnlicher Fall in Avignon zeigt, dass Täter sich vor Gericht oft versuchen, als Opfer darzustellen.
  • Ein Experte zweifelt an der Echtheit der Reue und vermutet Selbstmitleid als Motiv.
  • Die Staatsanwaltschaft fordert eine lange Haftstrafe und ein lebenslanges Berufsverbot.

Ein knapp 40-jähriger Mann muss sich seit Dienstag vor dem Bezirksgericht Frauenfeld verantworten. Ihm wird vorgeworfen, zwischen 2016 und 2020 sieben Kinder im Alter von vier bis 13 Jahren sowie acht Frauen sexuell misshandelt zu haben. Das Alter der Opfer spielte für den Täter offenbar keine Rolle. Die Opfer wurden mutmasslich mit Ketamin betäubt, woraufhin er sich an ihnen verging und sich dabei filmte.

Vor Gericht zeigte der Mann Reue, brach in Tränen aus und erklärte, in seiner Kindheit selbst Opfer von sexueller Gewalt gewesen zu sein. «Ich erkenne mich da nicht wieder, es kommt mir alles fremd vor», schluchzte der Beschuldigte vor Gericht. «Es ist grauenhaft», so der Mann. Die Verhandlung musste sogar für etwa zehn Minuten unterbrochen werden, da der Beschuldigte so fest weinte.

Vergleichbarer Fall und ähnliche Täteraussagen

Ein ähnlicher Gerichtsprozess fand dieses Jahr in Avignon statt. Im international bekannten Vergewaltigungsfall wurde Dominique Pélicot zur Rechenschaft gezogen. Er hatte seine Frau jahrelang mit Schlafmitteln betäubt und über 200 Mal von mehr als 80 Männern vergewaltigen lassen. Pélicot schrieb die Täter über das Internet an, bot seine Frau zur Vergewaltigung an und filmte anschliessend die Taten.

Während des Prozesses schilderte auch Dominique Pélicot, dass er angeblich als Kind zwischen dem neunten und 14. Lebensjahr missbraucht worden sei. Er zeigte Reue und sagte, er bereue zutiefst, alles zerstört und dadurch seine Frau verloren zu haben. «Er tat sich vor allem selbst leid», berichtete eine 20-Minuten-Reporterin damals vom Prozess.

Der Gerichtsprozess in Avignon wurde international bekannt, weil das Opfer, Gisèle Pélicot, und ihre Kinder eine öffentliche Verhandlung beantragt hatten. Sie wollten, dass die Welt erfährt, was ihnen widerfahren ist.
Der Gerichtsprozess in Avignon wurde international bekannt, weil das Opfer, Gisèle Pélicot, und ihre Kinder eine öffentliche Verhandlung beantragt hatten. Sie wollten, dass die Welt erfährt, was ihnen widerfahren ist.AFP

Inszeniert oder authentisch?

20 Minuten fragte Thomas Knecht, forensischer Psychiater, wie er die Reue der Täter beurteilt. Auf die Frage, ob solche Tränen echt seien oder lediglich ein Schauspiel, um dadurch eine mildere Strafe zu bekommen, antwortet Knecht: «Beim Gerichtsprozess erhält der Täter ein klareres Bild davon, was ihm nun blüht. Ihm wird bewusst, was er aus seinem Leben gemacht hat. Meistens entspringen solche Tränen dem Selbstmitleid. Die beiden Täter dieser unterschiedlichen Prozesse, handelten immer wieder nach dem gleichen Muster – deshalb kann man nicht davon ausgehen, dass sie echte Reue für das empfinden, was sie ihren Opfern angetan haben.»

Der Psychologe erklärt, dass der Status von Pädophilen im Gefängnis schlecht sei. Oft müssen sie Straftaten erfinden, um nicht gemobbt zu werden. Erfahren andere Insassen, dass jemand pädophil ist, wird dieser zum Ziel von Gewalt. Es könne sogar so weit gehen, dass man ihm mit dem Tod droht. «Im Gefängnis gibt es eine Hierarchie. Zuoberst stehen die Mörder, zuunterst die Pädophilen», sagt Thomas Knecht.

«Die Tränen entspringen dem Selbstmitleid», Thomas Knecht, forensischer Psychiater, über die Vergewaltiger und ihr Verhalten im Gerichtssaal.
«Die Tränen entspringen dem Selbstmitleid», Thomas Knecht, forensischer Psychiater, über die Vergewaltiger und ihr Verhalten im Gerichtssaal.Urs Jaudas

Die Opferrolle, um Mitleid zu erwecken

Laut Thomas Knecht kommt es häufig vor, dass pädophile Täter an Gerichtsprozessen zur Aussage bringen, dass sie selbst einmal Opfer von sexuellen Übergriffen waren. Beweise dafür gebe es jedoch meist nicht, und solche Aussagen würden dort zum ersten Mal getätigt.

«Laut Statistiken ist es nicht die Regel, dass ehemalige Opfer von sexuellen Übergriffen im Erwachsenenalter selbst zu Tätern werden. Es gibt keine psychologische Gesetzmässigkeit, die besagt, dass man als früheres Opfer ein Bedürfnis für solche Taten entwickelt», erklärt der forensische Psychologe. «Die sogenannte Täter-Opfer-Umkehr ist eine beliebte Strategie von Tätern, um sich vor Gericht als Opfer darzustellen», sagt Knecht.

In diesem Artikel erfährst du mehr darüber, wie es mit dem Prozess weitergeht.

Bist du minderjährig und von sexualisierter Gewalt betroffen? Oder kennst du ein Kind, das sexualisierte Gewalt erlebt?

Hier findest du Hilfe:
Polizei nach Kanton
Kokon, Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
Castagna, Beratungsstelle bei sexueller Gewalt im Kindes- und Jugendalter
Clickandstop.ch, Online-Meldestelle der Stiftung Kinderschutz Schweiz
Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Bist du selbst pädophil und möchtest nicht straffällig werden? Hilfe erhältst du bei Forio, Beforemore und bei den UPK Basel.

Folgst du schon 20 Minuten auf Whatsapp?

Eine Newsübersicht am Morgen und zum Feierabend, überraschende Storys und Breaking News: Abonniere den Whatsapp-Kanal von 20 Minuten und du bekommst regelmässige Updates mit unseren besten Storys direkt auf dein Handy.

Deine Meinung zählt

239
0
21
Merken