Nach EU-Deal«Bschiss» oder «Feuerlöscher»? Streit um Schutzklausel tobt
Bei den Verhandlungen mit der EU hat die Schweiz auf eine verschärfte Schutzklausel gepocht – mit Erfolg. Künftig soll die Schweiz einen grösseren Spielraum haben, um bei Problemen mit der Zuwanderung auf die Bremse zu treten.
Darum gehts
- Die Schweiz hat mit der EU eine verschärfte Schutzklausel vereinbart, um bei hoher Zuwanderung eigenständig handeln zu können.
- Die Schutzklausel erlaubt der Schweiz, Massnahmen wie Kontingente oder Inländervorrang zu ergreifen, ohne EU-Zustimmung.
- Die genauen Schwellenwerte für die Aktivierung der Klausel werden später festgelegt, erste Beispielzahlen wurden genannt.
- Kritik kommt von der SVP, die die Klausel als «Bschiss» bezeichnet, während die SP und Economiesuisse sie als Erfolg sehen.
Am Mittwoch gab der Bundesrat bekannt, wann und wie die neue Schutzklausel greifen soll. Im Fokus stehen vier Bereiche: die Nettozuwanderung aus der EU, die Zahl der Grenzgänger, die Arbeitslosigkeit und die Sozialhilfequote. «Die Schutzklausel ist wie ein Feuerlöscher an der Wand», sagte Justizminister Beat Jans (SP) an der Medienkonferenz: «Wenn es brennt, ist man froh, dass er da ist.»
Wie funktioniert die Schutzklausel?
Die Schweiz möchte eine einseitige Schutzklausel verankern, mit der sie bei einem als zu hoch empfundenen Zuzug von Arbeitskräften eigenständig Massnahmen ergreifen könnte, ohne die Zustimmung der EU einholen zu müssen. Die Klausel könnte dann aktiviert werden, wenn bestimmte Kennzahlen (z.B. Nettozuwanderung und Arbeitslosenquote) bestimmte Schwellenwerte überschreiten.
Will der Bundesrat die Schutzklausel aktivieren, muss er zuerst die Sozialpartner, die Kantone und die parlamentarischen Kommissionen anhören. Und dann beim gemischten Ausschuss aus Vertretern der EU und der Schweiz einen Antrag stellen. Kommt es zu keiner Einigung, kann er Schutzmassnahmen wie Kontingente oder einen Inländervorrang beschliessen, die nicht einvernehmlich sind.

Zudem geht es weiter an ein Schiedsgericht. Entscheidet dieses im Sinne der Schweiz kann die EU mit Gegenmassnahmen reagieren, die aber auf die Personenfreizügigkeit beschränkt sind und verhältnismässig sein müssen: «Das ist ein wichtiger Fortschritt», sagte Jans. Dank der Schutzklausel könne die Schweiz von den Regeln abweichen, ohne den Schlüssel zur «Markthalle Europa» abgeben zu müssen. Bei einem Entscheid gegen die Schweiz greife der normale Streitschlichtungsmechanismus.
Was sind die Schwellenwerte?
Die konkreten Schwellenwerte will der Bundesrat später in einer Verordnung festlegen. Auf Nachfrage nannte Vincenzo Mascioli, Staatssekretär für Migration, aber Beispielzahlen für einen «problematischen Anstieg»: Plus 0,74 Prozent bei der Nettozuwanderung, plus 0,34 Prozent bei der Zahl der Grenzgänger, plus 30 Prozent bei der Arbeitslosigkeit und plus zwölf Prozent bei der Sozialhilfequote. Nimmt man diese Werte als Basis, hätte der Bundesrat seit 2002 acht Mal die Auslösung der Schutzklausel prüfen müssen.

Wie fielen die Reaktionen aus?
Die Konkretisierung der Schutzklausel hat in der Schweizer Politik- und Wirtschaftslandschaft gemischte Reaktionen hervorgerufen. Einige Akteure sehen die Schweiz auf dem richtigen Weg zu mehr Selbstbestimmung, andere lehnen die Klausel als Mogelpackung ab.
Die SP war bei den EU-Verträgen lange gespalten, nach der Medienkonferenz aber voll des Lobes: «Gerade in den kritischen Bereichen wie Lohnschutz, Schutzklausel oder Bahnverkehr haben wir uns einen grossen innenpolitischen Handlungsspielraum bewahrt», sagt SP-Co-Präsident Cédric Wermuth.
Positiv sieht auch Economiesuisse, die grösste Dachorganisation der Schweizer Wirtschaft, die Schutzklausel. Mit der Konkretisierung sei der Schweiz «ein Verhandlungserfolg gelungen». Der Verband sieht in der Klausel «die Grundlage, damit die Schweiz bei schwerwiegenden Auswirkungen eigenständig handeln kann».
Die Grünliberalen schreiben auf X, die Schutzklausel könne bei einem starken Anstieg der Einwanderung auch regional eingesetzt werden. Dies zeige, dass der Bundesrat «die Sorgen eines Teils der Bevölkerung» berücksichtigt habe.
Die SVP bezeichnet die Schutzklausel in einer Mitteilung als «Bschiss» und spricht von «Lug und Trug». Die Volkspartei, welche die EU-Verträge seit Jahren bekämpft, will am Donnerstag an einer Medienkonferenz auf Details eingehen.

Kritik kommt aber auch von linker Seite: «Die Schweiz braucht keine Schutzklausel, sondern sie muss die Menschen schützen, die hier wohnen und arbeiten», teilt Grünen-Chefin Lisa Mazzone auf der Plattform Bluesky mit.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) spricht in einer Mitteilung sogar von einem Irrweg. Bundesrat und Parlament könnten Arbeitslosigkeit schon heute wirksam bekämpfen. Der Umweg über das Schiedsgericht koste wertvolle Zeit: «Die Schutzklausel wird kein Problem lösen, sondern Probleme allenfalls noch verstärken.»
Die Mitte hält sich mit einem Urteil zur Konkretisierung der Schutzklausel noch zurück: Man werde diese «analysieren und sich in der Vernehmlassung zum EU-Vertragspaket äussern».
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Reto Bollmann (bre), Jahrgang 1991, verstärkt seit Ende 2021 als Redaktor den Newsdesk von 20 Minuten. Eine Vorliebe hat er für politische, wissenschaftliche und geschichtliche Themen.
Delia Bachmann (dba), Jahrgang 1993, arbeitet seit 2024 für 20 Minuten. Als Redaktorin im Ressort Politik berichtet sie über das Geschehen in Bundesbern.

