Die Lage im Ukraine-Krieg«Die Lücke bei den Soldaten lässt sich teils überbrücken»
Im Gespräch mit André Härtel von der Stiftung für Wissenschaft und Politik geht es darum, wie sich die Ukraine Zeit verschafft und womit Putin mit Blick auf die Europäer rechnet.

Darum gehts
- André Härtel sagt im Gespräch:
- Ein russischer Durchbruch auf der gesamten Front sei weit weg.
- Die Lücke bei den Soldaten zwischen der Ukraine und Russland lasse sich durch Technik und anhaltende Waffenlieferungen teils überbrücken.
- Wladimir Putin sei zutiefst überzeut davon, dass die Europäer einknickten.
- Eine Ausweitung des ukrainischen Beschusses gegen Russland wäre nicht kriegsentscheidend, würde aber die russische Kalkulation beeinflussen.
Herr Härtel, was sagen Sie zur Lage in der Ukraine?
Die Ukraine ist in keiner guten Lage, das ist vollkommen klar. Russland ist trotz der hohen Verluste in der Lage, im Donbass weiter Gebiet zu erobern und sich strategischen Festungsstellungen anzunähern. Sollten Städte wie Kramatorsk fallen, der letzte ukrainisch kontrollierte Kern im Oblast Donezk, dürfte das nachhaltig strategische Konsequenzen haben. Doch vor einem Horrorszenario eines russischen Durchbruchs auf der gesamten Front, von einer unkontrollierbaren militärischen Situation, die zur Kapitulation der Ukraine führen könnte, sind wir weit weg.
Härtel zu Trumps Ukraine-Bekenntnis
Wiegt die westliche Waffenhilfe den Personalmangel im ukrainischen Militär auf?
Nein. Die Ukraine blutet bei den menschlichen Ressourcen als Erste aus, das weiss auch Moskau angesichts der im Sand verlaufenden ukrainischen Mobilisierungsversuche und fehlenden Rotationen beziehungsweise frischer Kräfte.
Und doch verteidigt sich die Ukraine bald schon im 5. Kriegsjahr.
Die Lücke bei den Soldaten zwischen der Ukraine und Russland lässt sich mit Technologie und anhaltenden Waffenlieferungen bis zu einem gewissen Grad überbrücken. Entscheidend sind die Abstandswaffen, also intelligente Drohnen und Raketen mit langer Reichweite, die den Gegner auf dem Schlachtfeld ohne menschlichen Kontakt distanzieren und die Logistik und den Nachschub in Russland treffen können. So verschafft man der Ukraine Zeit.
«Entscheidend sind die Abstandswaffen. So verschafft man der Ukraine Zeit.»
Was bringt mehr Zeit, während das Land ausblutet?
Die grundsätzliche militärische Asymmetrie in diesem Krieg lässt sich nun mal nicht verändern, solange man nicht selbst Kriegsteilnehmer wird. Und das wird nicht passieren.
Das heisst für die Ukraine?
Die Ukraine und der Westen können nur darauf bauen, die Kalkulation für das Erreichen der russischen Kriegsziele mittelfristig zu verändern. Durch die eben genannten Abstandswaffen, das Schliessen von Sanktionslücken beziehungsweise auch sekundäre Sanktionen kann der Westen den Preis für weitere Eroberungen hochtreiben und die russische Wirtschaft mittelfristig noch stärker unter Druck setzen. Russland handelt in der Ukraine trotz aller Entschiedenheit nicht ohne Risikoabwägung und muss innenpolitische Faktoren im Auge behalten.

«Der Westen kann den Preis für weitere Eroberungen hochtreiben und die russische Wirtschaft noch stärker unter Druck setzen.»
Was heisst «mittelfristig» – und kann das Land das durchhalten?
Die Lage bleibt schwierig und ich warne davor, den bisherigen Kriegsverlauf mit den überschaubaren Eroberungen Russlands, den hohen russischen Verlusten und den Beschuss im eigenen Land als Beleg dafür zu interpretieren, dass die Ukraine «strategisch schon gewonnen habe» beziehungsweise Russland nicht mehr «gewinnen» könne und sich «verkalkuliert» habe. Der Verlust eines jahrelangen «Wehrpostens» wie Kramatorsk kann ungeahnte psychologische Konsequenzen für die Ukrainer nach sich ziehen. Für Putin ist die militärische Situation in der Ukraine nur ein Faktor unter vielen.
«Eine wesentliche Überzeugung Putins ist es eben auch, dass die Europäer mittelfristig politisch einknicken.»
Welche Faktoren sind für Putin noch wichtig?
Die geopolitische Lage mit der immer engeren Zusammenarbeit mit China und Nordkorea und vor allem die neue US-Aussenpolitik schaffen weiter sehr gute strategische Rahmenbedingungen für Putin. Das gilt für eine Fortsetzung des Krieges genauso wie für mögliche ernsthafte Friedensgespräche. Eine wesentliche Überzeugung Putins ist es eben auch, dass die Europäer mittelfristig politisch einknicken, ihnen die Kosten für die Unterstützung der Ukraine aus dem Ruder laufen oder zu viele Länder rechtspopulistisch «umfallen» und die Einigkeit in der Sache zerbricht. Dann kann Putin seine Ziele auch politisch erreichen.

«Für viele Russen kommt der Krieg erst richtig im eigenen Land an.»
Die Lieferung reichweitenstärkerer US-Waffen wie Tomahawk-Raketen stehen zur Debatte. Wäre das kein Grund zu Optimismus für die Ukraine?
Auch hier wäre ich sehr vorsichtig. Meine aus den letzten Monaten gewonnene Einschätzung ist, dass der US-Präsident jeweils schon von seinen Ankündigungen beziehungsweise Drohungen auf «Truth Social» erwartet, beim Gegenüber eine Positionsanpassung zu erzeugen – ohne sich dann wirklich finanziell und eskalatorisch in die Umsetzung begeben zu müssen. Bisher sieht es allerdings nicht so aus, als würde Russland sich konzilianter geben.
«Eine Ausweitung des Beschusses wäre nicht kriegsentscheidend, aber sicher auch nicht ohne Effekt auf die russische Kalkulation.»
Ja, die möglichen Tomahawk-Lieferungen werden in ihrer Bedeutung für den Kriegsverlauf heruntergespielt beziehungsweise wird mit weiterer Eskalation in Europa gedroht. Allerdings ist ja sichtbar, dass Russland durch den systematischen Beschuss eigener Infrastruktur immer stärker unter Druck gerät. Für viele Russen kommt damit der Krieg erst richtig im eigenen Land an, man kann ihn nicht mehr ignorieren. Von daher wäre eine Ausweitung des Beschusses nicht kriegsentscheidend, aber sicher auch nicht ohne Effekt auf die russische Kalkulation.
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Ann Guenter (gux), arbeitet seit 2012 als Auslandsredaktorin für 20 Minuten. Seit August 2015 ist sie zudem Chefreporterin International.
