«Lass mich zu Hause sterben»

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Diagnose Covid-19«Lass mich zu Hause sterben»

Weil es derzeit wenige Intensivbetten hat, stehen Ärzte in Italien vor schweren Entscheidungen. Auch das Besuchsverbot trifft Angehörige und Patienten hart.

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Im Kampf gegen den Tod gibt es jeden Tag um 13 Uhr eine Pause. Zu dieser Zeit telefonieren Ärzte auf der Intensivstation der italienischen Poliklinik San Donato mit den Angehörigen der 25 schwerkranken Coronavirus-Patienten auf der Station, um diese auf den neusten Stand zu bringen. Vor dem Ausbruch der Epidemie war die Mittagszeit für Besuche in diesem Mailänder Spital vorgesehen.

Aber nun sind sie nicht mehr erlaubt, und kaum jemand in Italien verlässt noch seine Wohnung. Die Vorschriften zur Eindämmung der Epidemie sind rigoros.

Wenn die Ärzte bei den Angehörigen ihrer Patienten anrufen, versuchen sie, ihnen keine falschen Hoffnungen zu machen. Sie wissen, dass wohl jeder zweite Patient auf der Intensivstation an dem Virus sterben wird. Der Bedarf an Plätzen dort ist gross, insbesondere wegen der Atemprobleme, die die Krankheit mit sich bringen kann. Jedes Mal, wenn ein Bett frei wird, konsultieren zwei Anästhesisten einen Spezialisten für Wiederbelebung und einen Internisten, um zu entscheiden, wer nun dorthin kommt.

Wie wird entschieden, wer leben oder wer sterben soll?

Alter und Vorerkrankungen spielen dabei eine Rolle, ebenso wie das soziale Umfeld. «Wir müssen berücksichtigen, ob ältere Patienten Familien haben, die sich nach dem Verlassen der Intensivstation um sie kümmern können», sagt Marco Resta, 48, Anästhesist und stellvertretender Leiter der Intensivstation von San Donato. Selbst wenn es keine Chance gebe, «muss man einem Patienten ins Gesicht schauen und sagen: ‹Alles ist gut.› Und diese Lüge zerstört dich.»

«Wir sind so drastische Entscheidungen nicht gewohnt»

Die medizinische Krise zwingt Ärzte, Patienten und Familien zu Entscheidungen, die Resta, wie er sagt, selbst in Kriegszeiten nicht erlebt hat. Der Mediziner war Militärarzt während des Kosovo-Kriegs, wo er im Luftrettungsteam diente und Patienten von Albanien nach Italien flog. Immer wenn ein neuer Patient mit Coronavirus im Spital aufgenommen wird, schreiben die Mitarbeiter ein E-Mail an die Angehörigen, um ihnen zu versichern, dass dieser «wie ein Familienmitglied» behandelt wird. Die Klinik versucht zudem, beim Anruf um 13 Uhr Videoschaltungen zwischen Patienten und Angehörigen zu ermöglichen. Oft ist aber die letzte Person, die ein sterbender Covid-19-Patient sieht, ein Arzt – und nicht ein Familienmitglied.

Die Epidemie, die zuerst die nördlichen Regionen der Lombardei und Venetiens traf, setzt die Intensivstationen der dortigen Spitäler einer enormen Belastung aus. Binnen drei Wochen benötigten 1135 Menschen in der Lombardei einen Intensiv-Platz, aber es gibt laut Giacomo Grasselli – Leiter der Intensivstation der von San Donato getrennten Mailänder Poliklinik – nur 800 solcher Betten.

Angesichts der hohen Fallzahlen müssen die Ärzte häufiger und schneller urteilen, wer höhere Überlebenschancen hat. Eine Entscheidung, die Ärzte vor ein Dilemma stellt – besonders in einem katholischen Land wie Italien, in dem Sterbehilfe nicht erlaubt ist und das die älteste Bevölkerung in Europa hat: Fast jede vierte Person ist 65 Jahre oder älter. «Wir sind so drastische Entscheidungen nicht gewohnt», sagt Resta.

«Die Ärzte sagten, es sei sinnlos»

Alfredo Visioli war einer dieser Patienten. Als bei ihm das Virus diagnostiziert wurde, lebte der 83-Jährige aus Cremona ein aktives Leben zu Hause mit seinem Deutschen Schäferhund Holaf. Er kümmerte sich um seine 79-jährige Frau, die vor zwei Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte, wie seine Enkelin Marta Manfredi berichtet. Zunächst hatte er nur zeitweise Fieber, aber zwei Wochen nach der Diagnose Covid-19 entwickelte er eine Lungenfibrose, die das Atmen immer schwieriger machte.

Die Ärzte im Spital von Cremona, einer Stadt mit 73'000 Einwohnern in der Lombardei, mussten sich entscheiden, ob sie ihm einen Schlauch in die Luftröhre einführen sollten, um ihm das Atmen zu erleichtern. «Sie sagten, es sei sinnlos», sagt Manfredi. Sie hätte gern kurz vor seinem Tod die Hand ihres Grossvaters gehalten. Nun sorgt sich Marta Manfredi um ihre Grossmutter Ileana, die sich ebenfalls angesteckt hat und im Spital ist. Sie weiss noch nicht, dass ihr Mann Alfredo tot ist.

«Ich will dich noch einmal sehen»

Grasselli, der sämtliche staatlichen Intensivstationen in der Lombardei koordiniert, geht davon aus, dass bisher alle Patienten mit einer begründeten Chance, sich zu erholen, und mit einer akzeptablen Qualität weiterzuleben, behandelt wurden. Aber er betont, dass dieses Konzept unter Druck steht. «Vorher hätten wir bei einigen Leuten gesagt: ‹Lass uns ihnen für einige Tage eine Chance geben.› Jetzt müssen wir da strenger sein.»

Stefano Bollani möchte einfach nur in die Arme seiner Frau. Der 55-Jährige liegt in der Klinik San Donato, wo er nach einer Ansteckung mit dem Virus wegen Lungenentzündung behandelt wird. Seine Frau Tiziana Salvi hat er seit zwei Wochen nicht mehr gesehen. Damals hat sie ihn vor dem Spital abgesetzt. «Bring mich weg von hier! Lass mich zu Hause sterben», schreibt er ihr nun. «Ich will dich noch einmal sehen.»

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