Betroffene erzählen: «ADHS ist keine Modekrankheit, ohne Ritalin war unser Sohn das pure Chaos»

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Betroffene erzählen«ADHS ist keine Modekrankheit, ohne Ritalin war unser Sohn das pure Chaos»

Trotz steigendem Ritalinkonsum in der Schweiz: Betroffene wehren sich gegen den Vorwurf, an einer «Modekrankheit» zu leiden oder mit den Medis den Nachwuchs ruhigzustellen.

In der Schweiz werden immer mehr ADHS-Medikamente wie zum Beispiel Ritalin verkauft. (Symbolbild)
Krankenkassen verzeichnen Rekordzahlen bei der Verschreibung von ADHS-Medikamenten.
Im Vergleich: Vor fünf Jahren liessen sich knapp 50 Prozent weniger Menschen mit Ritalin oder ähnlichen Wirkstoffen behandeln als im Jahr 2021.
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In der Schweiz werden immer mehr ADHS-Medikamente wie zum Beispiel Ritalin verkauft. (Symbolbild)

20min/Simon Glauser

Darum gehts

Noch nie wurden in der Schweiz so viele ADHS-Medikamente verschrieben wie letztes Jahr: Gemäss einer Mitteilung der Krankenkasse Swica liessen sich 2021 rund 59’000 Menschen mit Ritalin oder ähnlichen Wirkstoffen behandeln. Fünf Jahre zuvor waren es noch knapp 40’000. Handelt es sich beim Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) um eine «Modekrankheit» und einen «Hype», wie von einigen Expertinnen und Experten moniert (siehe Box)? Mehrere Personen, deren Kinder oder sie selbst an ADS oder ADHS leiden, nehmen Stellung:

Anonym (w, 55): «Bei meinem Sohn war Ritalin die richtige Entscheidung»

Unser Sohn erhielt ab der ersten Klasse Ritalin. Ohne wäre ein Schulbesuch in einer Regelklasse unmöglich gewesen. Zu Beginn war ich allerdings sehr kritisch. Doch nach einer Abklärung bei einem Spezialisten entschieden wir uns dafür – und der Unterschied war frappant. Ohne Ritalin war er pures Chaos: Er hat die ganze Familie und Schulklasse verrückt gemacht, ist ständig herumgerannt, hat Sachen runtergeworfen.

Wenn wir auf die Gabe von Ritalin verzichteten, war es eine Katastrophe. Das hat nichts damit zu tun, dass wir nicht genügend mit ihm nach draussen gingen oder mit seiner lebendigen Art nicht klarkamen – im Gegenteil. Als mein Sohn älter wurde, haben wir ihm etwa die Entscheidung, ob er Ritalin nehmen möchte, selbst überlassen. In der Lehre hat er das Medikament selbstständig abgesetzt und danach erfolgreich ein Studium absolviert. Kurzum: ADHS ist keine Modekrankheit, Ritalin war bei ihm die richtige Entscheidung. Alle Kritikerinnen und Kritiker, die behaupten, wir hätten ihn aus Bequemlichkeit oder Egoismus medikamentiert, wissen nicht, wovon sie sprechen.

R.K. (w, 24): «Ohne Ritalin bin ich ein völlig anderer Mensch»

In meiner Familie leiden sowohl mein Vater als auch meine beiden Geschwister und ich an ADHS. Bereits mit knapp fünf Jahren bekam ich erstmals Ritalin. War ich zuvor sehr unkonzentriert, impulsiv und vergesslich, nahm ich meine Umwelt danach viel bewusster wahr. Ohne Ritalin erkenne ich mich kaum wieder: Ich bin unruhig, leide unter Einschlafproblemen und bin völlig unausstehlich. Ich gehe wegen Nichtigkeiten an die Decke und lasse meine Aggression an anderen aus.

Wenn ich darauf verzichte – etwa vor einer Abklärung beim Spezialisten –, haut es mich auch psychisch komplett aus der Bahn. Ich reagiere etwa mit plötzlichen Panikattacken und Herzrasen, was zeigt, dass eine gewisse psychische Abhängigkeit nach einer so langen Zeit vorhanden ist. Zudem werde ich ohne Medis häufiger und schwerer depressiv, da mich die Welt da draussen völlig überfordert. Ritalin hat mir gewissermassen das Leben gerettet.

Anonym (w, 40): «Die Gesellschaft gibt Müttern das Gefühl, versagt zu haben»

Mein Sohn hat eine schlimme Form von ADHS: Er ist sehr impulsiv, wird sehr schnell wütend, schlägt oft einfach zu. Ich konnte kaum auf den Spielplatz oder an einen Kindergeburtstag mit ihm. Und wenn, musste ich stets in Griffnähe sein, falls er wieder austickt. Andere Mütter haben mich gemieden, ich war total isoliert.

Im Nachhinein hat es meinem Sohn immer sehr leid getan. Die Impulskontrolle war sehr schlecht, er konnte sich schlecht integrieren und sozial hatte er grossen Nachholbedarf. Kinder mit ADHS sind konstant reizüberflutet, statt selektiv Informationen aufzunehmen, kommt alles gleichzeitig rein. Das wäre, wie wenn man gleichzeitig TV schaut, Radio hört, ein Buch liest und in der Küche noch der Teekessel pfeift.

Ich liess ihn abklären, als er in die erste Klasse hätte wechseln sollen. Ich selbst war am Anschlag, im Kindergarten waren die Lehrpersonen mit ihrer Weisheit am Ende und ich wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Ich zweifelte an mir und meiner Erziehung, gleichzeitig gab mir die Gesellschaft das Gefühl, versagt zu haben. Das Vorurteil, das eigene Kind regulieren zu wollen, um einem das Leben einfacher zu machen, ist gross. Zudem dominiert auch der Gedanke, dass es sich bei Ritalin um eine Droge, ein Aufputschmittel handelt. Das stimmt jedoch nicht, bei ADHS-Betroffenen bringt es das chemische Ungleichgewicht im Gehirn in Balance.

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