Betroffene erzählen«Mein Sohn geht seit sechs Monaten nicht mehr zur Schule»
Die Zahl der Kinder, die aus Angst nicht zur Schule gehen, steigt. Auch die 20-Minuten-Community beschäftigt dieses Problem – zwei Mütter erzählen.
Darum gehts
Kinder und Jugendliche bleiben vermehrt der Schule fern – aus Angst.
Eine Bernerin erzählt von ihren Erfahrungen mit ihrem elfjährigen Sohn, der seit sechs Monaten den regulären Unterricht nicht mehr besucht.
Auch die 14-jährige Tochter einer Zentralschweizerin ging lange aus Angst nicht zur Schule.
Immer mehr Kinder und Jugendliche bleiben der Schule fern. Der Grund: Angst. Eine Situation, die, wie sich in Gesprächen zeigt, für die betroffenen Familien sehr belastend ist. Zwei Mütter erzählen.
Leistungsdruck und ungutes Gefühl
Der elfjährige Sohn einer Berner Familie, die anonym bleiben möchte, fehlt bereits seit rund einem halben Jahr vom regulären Unterricht. «Nach den letzten Sommerferien sagte er immer mal wieder, dass er sich nicht gut fühle», sagt seine Mutter* gegenüber 20 Minuten.
Die 41-Jährige habe ihn einzelne Tage von der Schule abgemeldet – jedoch schnell bemerkt, dass nicht die physische Gesundheit des Elfjährigen das Problem war: «Er sagte, dass er jedes Mal ein ungutes Gefühl bekomme, wenn er zur Schule muss», erzählt die Bernerin.
«Er bekam Panikattacken»
Nach den Herbstferien spitzte sich die Situation zu: «Er fehlte immer häufiger. Manchmal fuhr mit dem Velo los – nur um kurz danach wieder weinend vor der Haustüre zu stehen», so die 41-Jährige. Später habe er es nicht mal mehr heraus geschafft. «Er bekam Panikattacken, war kaum ansprechbar und völlig aufgelöst.»
Die Situation sei für die Familie schwierig gewesen. «Wir haben viel geweint und oft schlaflose Nächte gehabt. Sein Kind leiden zu sehen und nicht helfen zu können, ist herzzerreissend», sagt sie. Die Gründe für seine Schulangst seien bis heute nicht geklärt. Er hätte nie schlechte Noten gehabt und auch Mobbing habe er nie erlebt.
Kleine Fortschritte
Schnell habe sich die Familie auf die Suche nach psychologischer Hilfe gemacht – die Bernerin beschreibt einen langen und mühsamen Prozess. «Viele Ärzte sind ausgebucht und nehmen keine neuen Patienten auf.» Es folgte ein langes Hin und Her mit mehreren Ärztewechseln.
Die Betreuung habe auch Erfolge gezeigt: Derzeit gehe er fast täglich zur Schule, jedoch nur in Einzellektionen mit einem integrativen Förderlehrer. Der Wiedereinstieg erfolge somit in kleinen Schritten. Die Schule habe grösstenteils Verständnis für seine Angst gezeigt. «Aber mein Sohn ist nach wie vor nicht zurück in seiner regulären Klasse. Wenn er das bis nach den Frühlingsferien nicht schafft, muss er die Schulstufe wiederholen.»
Leidet dein Kind unter Schulangst?
Angst vor dem Mathe-Unterricht
Eine ähnliche Geschichte erzählt eine Zentralschweizerin* (53). Schon im Kindergartenalter habe man bei ihrer Tochter bemerkt, dass das Mädchen Mühe mit Zahlen habe. «Man sagte uns, dass das auswachsen würde – jetzt wissen wir, dass das Blödsinn war», so die Mutter.
Ihre Tochter habe in der zweiten Klasse nicht mehr zur Schule gehen wollen – aus Angst vor der Mathematik. Entgegen der Einschätzung der Lehrpersonen habe die 53-Jährige eine Abklärung auf Dyskalkulie, also einer Rechenschwäche, beantragt. Die Vermutung habe sich dann bestätigt.
«Sie erlitt einen Zusammenbruch»
Als ihre Tochter elf Jahre alt war, habe die 53-Jährige zunehmend resigniert, weil die Schule «keinen Plan hatte», wie ihrer Tochter zu helfen sei. Die Familie habe sich alleine gelassen gefühlt. Die Mathe-Angst des Mädchens habe sich auf ihre Lebensfreude ausgeweitet, bis sie mit 13 Jahren einen Zusammenbruch erlitten habe und in eine tiefe Krise geraten sei.
Sechs Monate lang sei die 13-Jährige deshalb in einer Jugendklinik gewesen. «Die schlimme schulische Geschichte wurde uns kaum geglaubt. Die Schuld wurde bei uns gesucht», so die Mutter. Erst ein offizieller Test habe die Schulangst der Tochter bestätigt und die Eltern entlastet.
Zukunftssorgen
Seit November sei das Mädchen an einer Privatschule, für die die Eltern selbst aufkommen müssten. Der mittlerweile 14-Jährigen gehe es dort viel besser, da sie im eigenen Tempo arbeiten könne. Dennoch sei die fehlende Mathematikgrundlage wohl für ihr Leben einschneidend: Auch im gestalterischen Bereich brauche man heutzutage oftmals eine Matura, so die Mutter.
Sie kritisiert das Schweizer Schulsystem: «Ausser in der Mathematik ist unsere Tochter eine gute Schülerin. Hätte man bei der Dyskalkulie früh angesetzt, hätte sie ein Verständnis für das Fach aufbauen können.» Das sei jedoch nie möglich gewesen: «In unserem Schulsystem sind die Kinder einem immer grösser werdenden Druck ausgesetzt.» Und: «Alle Kinder werden über dieselbe hohe fixierte Messlatte gezogen», moniert sie.
*Namen der Redaktion bekannt.
Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung?
Hier findest du Hilfe:
Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858
Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen
Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55
Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen
Stand by you Schweiz, Helpline für Angehörige, Tel. 0800 840 400
Psyfinder, qualifizierte Fachpersonen in deiner Nähe
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Angst- und Panikhilfe Schweiz, Tel. 0848 801 109
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