Steigende Jugendgewalt«Messer sind ein Mittel, um Männlichkeit zu symbolisieren»
Alarmierende Zahlen aus der Kriminalstatistik: Immer öfter gehen junge Männer mit Messern aufeinander los, teils sind sie noch minderjährig. Gewaltforscher Dirk Baier ordnet ein.
Darum gehts
Seit 2015 nimmt die Jugendkriminalität zu. Jüngst haben sich Vorfälle gehäuft, bei denen junge Männer mit einem Messer zustechen.
Ein Blick in die Zahlen bestätigt den Eindruck: Schwere Körperverletzungen und Tötungsdelikte von jungen oder minderjährigen Männern haben sprunghaft zugenommen.
Der Gewaltforscher Dirk Baier ist besorgt. «Wenn die Gesellschaft nicht gegensteuert, wird sich dieser Trend fortsetzen», befürchtet er.
Gründe für die Zunahme gibt es mehrere, wie Baier im Interview erklärt.
Ob aus Zürich, St. Gallen, Luzern oder Genf: Meldungen über Messerstechereien haben sich in den letzten Wochen und Monaten gefühlt gehäuft. Ein Blick in die Statistik zeigt: Tatsächlich haben in den letzten Jahren gerade Gewalttaten mit Schneid- oder Stichwaffen sowie Tötungsdelikte und schwere Körperverletzungen von unter 24-Jährigen zugenommen.
Für 2021 liegen noch keine Zahlen vor. Die Kantonspolizeien geben sich zurückhaltend. Hanspeter Krüsi, Mediensprecher der Kantonspolizei St. Gallen, sagt aber: «Ich kann den Eindruck, dass Gewaltdelikte, bei denen Messer im Spiel sind, im öffentlichen Raum zugenommen haben, bestätigen.» Die Gesamtzahl von Gewalttaten mit Messern sei bisher mit 46 (Stand 14. Oktober) zwar noch vergleichsweise tief. «Das hat aber damit zu tun, dass wir dieses Jahr weniger häusliche Gewalt hatten, bei der Messer eingesetzt wurden», sagt Krüsi.
Dass Jugendliche und vorwiegend junge Männer heutzutage häufiger ein Messer bei sich tragen, wenn sie etwa am Wochenende in den Ausgang gehen, beobachtet auch der Gewaltforscher Dirk Baier. Im Interview spricht er über die Gründe für den Anstieg und erklärt, wie es dazu kommt, dass bei Auseinandersetzungen zum Messer gegriffen wird.
Messerattacken, insbesondere von jungen und teils minderjährigen Menschen, wie jene am Wochenende in Stadelhofen, häufen sich. Was sind die Gründe?
Zunächst müssen wir festhalten, dass die Zahlen in der Schweiz grundsätzlich eher tief sind. Auf diesem Niveau gibt es immer auch Zufallsschwankungen. Insgesamt sehen wir aber einen besorgniserregenden Trend hin zu mehr Jugendgewalt. Und tatsächlich gibt es auch Gründe, weshalb das Mitführen von Waffen, insbesondere von Messern, für junge Männer attraktiver geworden ist.
Welche Gründe?
Einerseits machen Gleichaltrige dies auch – um dazuzugehören, müssen die Jugendlichen mitmachen. Messer sind ein einfaches Mittel, um Männlichkeit und Dominanz zu symbolisieren, einem Gegenüber kann damit schnell Angst eingejagt werden. Zudem eifern die die jungen Menschen medialen Vorbildern beispielsweise aus der Rapszene nach, die mit Messern und anderen Waffen in Videos und auf Social-Media-Accounts posieren.
Befürchten Sie, dass der Trend hin zu mehr Jugendgewalt und Messerstechereien sich fortsetzen wird?
Für 2021 liegen noch keine Zahlen vor. Die Kantonspolizeien geben sich zurückhaltend. Hanspeter Krüsi, Mediensprecher der Kantonspolizei St. Gallen, sagt aber: «Ich kann den Eindruck, dass Gewaltdelikte, bei denen Messer im Spiel sind, im öffentlichen Raum zugenommen haben, bestätigen.» Die Gesamtzahl von Gewalttaten mit Messern sei bisher mit 46 (Stand 14. Oktober) zwar noch vergleichsweise tief (im Jahr 2020 wurden 94 Delikte verzeichnet). «Das hat aber damit zu tun, dass wir dieses Jahr weniger häusliche Gewalt hatten, bei der Messer eingesetzt wurden», sagt Krüsi.
Was für Messer tragen die jungen Menschen bei sich? Können diese legal gekauft werden?
Wir können davon ausgehen, dass es sich mehrheitlich um illegale Messer handelt, also etwa Butterfly- oder Springmesser. Mit denen kann man im Gegensatz zu einem Küchenmesser auch tatsächlich zeigen, dass man ein «gefährlicher Typ» ist. Die Messer werden unter anderem über das Ausland importiert und über Netzwerke von Bekannten oder das Internet verkauft.
Ein Messer zu tragen heisst noch nicht, dass es auch eingesetzt wird. Wie kommt es dazu?
Eine Typologie von Messerstechern ist mir nicht bekannt. Übergriffe mit Messern fallen teilweise auch in den Bereich der häuslichen Gewalt und entsprechen somit nicht dem Typ Jugendgewalt. In diesem Bereich gibt es sicherlich mindestens zwei mögliche Delikte: Einerseits wird das Messer nicht gezielt, sondern im Zuge einer Eskalationsspirale eingesetzt: Eine Auseinandersetzung schaukelt sich hoch und weil die jungen Täter Messer dabei haben, werden diese dann auch eingesetzt. Dabei handelt es sich um eher spontane Taten. Andererseits kann der Messereinsatz auch gezielt und geplant erfolgen. Die spontanen Delikte dürften aber überwiegen. Sie können nur deshalb geschehen, weil junge Menschen Messer mit sich tragen. Das Mitführen von Messern ist daher aus meiner Sicht ein sehr wichtiges Problem im Jugendalltag.
Wie kann diesem Problem entgegengewirkt werden?
Einerseits braucht es wieder ein verstärktes Engagement im Bereich der Gewaltprävention allgemein, d.h. im Schul- und Freizeitbereich sind Projekte umzusetzen, die Kindern und Jugendlichen Kompetenzen wie Empathie usw. vermitteln. Anderseits müssen wir dem Trend des Messertragens einen Riegel vorschieben. Die Verkaufswege müssen besser kontrolliert werden und verstärkte Personenkontrollen durch die Polizei könnten hilfreich sein. Wenn man zum zweiten oder dritten Mal mit einem illegalen Messer erwischt wird, lässt man es vielleicht sein, dieses mitzuführen.
Braucht es auf politischer Ebene Bemühungen, um der steigenden Jugendgewalt entgegenzuwirken?
Wenn sich die Politik eines Themas annimmt, zeigt sie, dass es von hoher gesellschaftlicher Bedeutung ist. Vor 2015 gab es beispielsweise ein Bundesprogramm zur Gewaltprävention, das auch zum damaligen Rückgang beigetragen hat. Ich würde es begrüssen, wenn die Politik in ähnlicher Form wieder Aktivitäten im Gewaltpräventionsbereich fördern würde.
Bist du oder ist jemand, den du kennst, von sexualisierter, häuslicher, psychischer oder anderer Gewalt betroffen?
Hier findest du Hilfe:
Polizei nach Kanton
Beratungsstellen der Opferhilfe Schweiz
Lilli.ch, Onlineberatung für Jugendliche
Frauenhäuser in der Schweiz und Liechtenstein
Zwüschehalt, Schutzhäuser für Männer
Agredis, Gewaltberatung von Mann zu Mann, Tel. 078 744 88 88
LGBT+ Helpline, Tel. 0800 133 133
Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143
Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147
My 20 Minuten
Als Mitglied wirst du Teil der 20-Minuten-Community und profitierst täglich von tollen Benefits und exklusiven Wettbewerben!