ETH-Forscherin«Der steigende Konsum von starken Opioiden sollte uns Sorgen machen»
Opioide, starke und schnell süchtig machende Schmerzmittel, haben in den USA eine Krise ausgelöst. Auch in der Schweiz nimmt der Konsum stark zu. Eine Forscherin fordert mehr Daten und Aufklärung.
Darum gehts
In den USA haben Opioide eine Tragödie ausgelöst, die in der Folge Hunderttausende das Leben kostete.
Eine neue Studie zeigt nun: Auch in der Schweiz werden immer häufiger Opioid-Schmerzmittel verschrieben.
Eine ETH-Forscherin beklagt, dass Vieles im Dunkeln liege.
Sie fordert mehr Daten, um den besorgniserregenden Trend besser zu verstehen.
Immer mehr Menschen in der Schweiz erhalten Opioide gegen Schmerzen, etwa nach einer Operation. Das zeigt eine neue Studie des Kantonsspitals Baden – und, dass die Opioide auch schon bei Bagatellfällen wie leichten Arbeitsunfällen verschrieben werden. Das weckt unschöne Erinnerungen: In den USA stand genau diese Problematik am Ursprung einer wahren Opiat-Krise, die alleine 2016 60’000 Menschen das Leben gekostet hat.
Entsprechend besorgt ist Andrea Burden. Die Kanadierin forscht an der ETH Zürich unter anderem zur Verschreibung von Opioiden und publizierte im Juni 2022 unter dem Titel «Opioid-Vergiftungen nehmen stark zu» erste Zahlen und Erkenntnisse. Im Interview spricht sie über die Gründe für die Zunahme, Parallelen zur Situation in den USA und Kanada – und fordert dringend bessere Daten, um die «Blackbox» Opioid-Verschreibungen in der Schweiz zu verstehen.
Frau Burden, droht uns derselbe Horror wie in den USA und Kanada?
Andrea Burden*: Davon sind wir sicher noch weit weg. In den USA starben die Menschen nicht an den Opioiden, sondern weil die Ärzte diese sehr plötzlich kaum mehr verschrieben haben. Die Menschen, die auf legalem Weg abhängig geworden sind, wurden in die Illegalität gedrängt. Viele wechselten auf Heroin oder Fentanyl vom Schwarzmarkt.
Wie ist die Situation in der Schweiz?
Was wir feststellen ist, dass mehr Opioide verschrieben werden. Das bestätigt nun auch die
neue Studie des Kantonsspitals Baden. Leider ist das auch schon fast alles, was wir mit Daten stützen können. Viele Fragen sind offen: Woher kommt die Zunahme? Sind die Verschreibungen richtig und nötig oder passieren sie zu schnell und die Patientinnen und Patienten bekommen die Medikamente zu lange? Wie viele Patienten werden abhängig? Es wäre wichtig, diese Fragen jetzt zu beantworten. Leider fehlen uns dazu die Daten.
Wieso?
In der Schweiz gibt es kein elektronisches Patientendossier, viele Daten werden dezentral erfasst und aufbewahrt, was die Vergleichbarkeit erschwert. Wir wissen eigentlich nur, dass mehr Opioide genommen werden – wieso und von wem weiss niemand so genau.
Musstest du auch schon solche Schmerzmittel nehmen?
Weshalb ist das ein Problem?
Einerseits erschwert es die Kontrolle: Auch wenn ein Hausarzt sich nach einer Operation strikt an das Rezept der Patientin hält, kann diese damit in eine Apotheke oder zu einem anderen Arzt gehen und sich dieselbe Dosis noch einmal holen. Das birgt grosses Missbrauchspotenzial. Dazu kommt, dass wir schlicht nicht wissen, ob wir nicht auf eine grössere Krise zuschlittern.
Gibt es Anzeichen dafür?
Als wir vor einem Jahr mit der Forschung angefangen haben, sagten alle: «In der Schweiz haben wir kein Opioid-Problem, die Ärzte haben das im Griff.» Das ist exakt dasselbe, was man in den USA in den 90er- und 2000er-Jahren auch gesagt hat. Wir haben super Ärzte, die machen sicher alle das Bestmögliche. Aber es gab auch eine Menge guter Ärzte in den USA, und das hat sie leider nicht vor der Krise bewahrt.
Angesichts der Daten, die den steigenden Konsum von starken Opioiden wie Oxycodon belegen, sollten wir uns Sorgen machen. Zumal wir immer mehr Geschichten von Menschen hören, die nach einer Operation in der Schweiz von Schmerzmitteln abhängig geworden sind. Wir brauchen zentralisierte Daten, damit wir genau hinsehen können. Im Moment haben wir unvollständige Daten und sind immer ein paar Jahre im Rückstand.
Könnten die Probleme mittlerweile also schon grösser sein?
Die Studie konnte die Jahre bis 2019 untersuchen. Fast überall auf der Welt ist der Gebrauch von Opioiden von 2019 bis heute weiter angestiegen. Gut möglich, dass das auch hier der Fall ist.
Was kann für Betroffene gemacht werden?
Opioide sind gute und legitime Schmerzmittel bei starken akuten Schmerzen. Sie dürfen jedoch nur für kurze Zeit angewendet werden, schon nach wenigen Wochen kann eine körperliche Abhängigkeit entstehen. Um einer Abhängigkeit vorzubeugen, sollten Opioide nur in der absolut notwendigen Dosis verabreicht werden, und die Patienten sollten überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie die Einnahme beenden. Und diejenigen, die bereits abhängig sind, müssen wir unterstützen und die beste Lösung finden, um weiteren Schaden zu vermeiden.
*Andrea Burden ist Professorin für Pharmakoepidemiologie an der ETH Zürich.
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