Von wegen SandsturmKapitän setzte die Ever Given mit Vollgas ins Ufer des Suezkanals
Für den «Spiegel» analysierte ein erfahrener Lotse und Ex-Kapitän anhand von Dokumenten den Unfall des Frachters Ever Given, der den Suezkanal über Tage blockierte. Sein Fazit: Kapitän und Lotse machten bei der Durchfahrt schwere Fehler.
Darum gehts
Im März blockierte der Frachter Ever Given den Suezkanal. Das kostete Unsummen.
Die Havarie wird meist starken Winden zugeschrieben. Doch das hält Nautik-Experte Gerald Immens für Quatsch.
Seine Analyse ergab, dass die Schiffsführung nach einem falsch berechneten Kurs das Schiff viel zu schnell werden liess und so den Crash herbeiführte.
Die Havarie des Frachters Ever Given, der am 23. März im Suezkanal ins Ufer fuhr, sich dabei quer stellte und den Kanal blockierte, hatte Folgekosten in Höhe von mehreren Hundert Millionen: Sechs Tage lang gabs im Kanal kein Durchkommen; 400 Schiffe mussten teure Wartezeiten in Kauf nehmen.
Als Erklärung für den Zwischenfall wurde stets ein Sandsturm genannt. Doch der erfahrene Seemann Gerald Immens (62), langjähriger Kapitän von Tankern und heute Ausbilder und Lotse im Nord-Ostsee-Kanal, hat eine andere Erklärung für das Desaster. Nach der Analyse von öffentlich zugänglichen Daten zur verhängnisvollen Fahrt der Ever Given kommt er zum Schluss, dass sowohl der Kapitän des 400 Meter langen Ozeanriesen als auch der Lotse an Bord schwere Fehler begingen, wie er im Interview mit dem «Spiegel» (Bezahlartikel) erklärt.
Kapitän machte einen schwerwiegenden Fehler
Dass das Wetter für die Havarie verantwortlich gewesen sein soll, hält er für «Quatsch». Immens: «So ein Schiff fährt ja sogar in pottendichtem Nebel», erklärt er. Es hätten zum Zeitpunkt des Unfalls zwar stürmische Winde geherrscht, diese seien allerdings von hinten gekommen und hätten keine entscheidende Rolle gespielt. Allerdings habe bei der Einfahrt in den Kanal ordentlicher Seitenwind auf das Schiff eingewirkt, welches aufgrund der grossen Seitenfläche und der Tausenden Container an Bord darauf empfindlich reagierte.
Laut dem Experten musste der Kapitän aufgrund des Seitenwinds den sogenannten Versatz ausgleichen und dafür seinen Kurs korrigieren. Da von der Brücke eines riesigen Schiffs wie der Ever Given aus «kaum noch Wasser zu sehen ist», sind Kapitän und Lotse bei der Navigation auf GPS-Daten und elektronische Seekarten angewiesen. Immens erklärt: «Direkt nach der Einfahrt in den Kanal zeigen diese AIS-Daten ein ‹Heading› von 48 Grad: Das ist der Kurs, den das Schiff steuert – und auch der Kurs, der sich aus der Seekarte ablesen liesse. Aber über Grund hält die Ever Given diesen Kurs durch den starken Seitenwind nicht ein; sie fährt tatsächlich nur um die 42 Grad – also auf das linke Kanalufer zu.»
Mit Höchstgeschwindigkeit durch den Kanal gefahren
Also hätte diese Abweichung «auf den Kurs draufgeschlagen» werden müssen, das Schiff also auf 54 Grad gehen müssen. Doch das sei minutenlang nicht geschehen – laut Immens ein «gravierender Navigationsfehler» und ein «offensichtliches Unverständnis der Physik, wie sich ein Schiff in so einer Kanalfahrt verhält». In der Folge sei die Ever Given immer näher an die linke Kanalseite gekommen. Dann sei ein hydrodynamischer Effekt auf fatale Weise hinzugekommen: der mächtige Wasserberg, den der Frachter vor sich her schob, habe das Schiff vorne nach rechts gedrückt, während es hinten nach links gesaugt wurde.
Um diesen sogenannten Banking Effect auszugleichen, habe man auf der Brücke beschlossen, mehr Fahrt zu geben, damit das Ruder stärker angeströmt wird und das Schiff rascher reagiert. «Kurzzeitig ist das durchaus richtig», erklärt Immens. «Allerdings darf es nicht dazu führen, dass das Schiff dauerhaft schneller wird, weil dann die hydrodynamischen Effekte noch viel stärker werden.» Doch genau dies sei geschehen: Obwohl im Kanal eine Höchstgeschwindigkeit von acht Knoten (knapp 15 Stundenkilometer) herrsche, sei die Ever Given bis auf 12,8 Knoten (22 Stundenkilometer) beschleunigt worden.
Das Schiff sei zwar von der linken Seite wieder weggekommen, dann aber auf das rechte Kanalufer zugerast, worauf der Kapitän erneut beschleunigt habe – das Schiff kam wieder weg und raste erneut aufs linke Ufer zu. Schliesslich krachte der Riesenfrachter mit fast 13 Knoten ins Ufer, worauf er sich drehte und mit dem Heck ins Ostufer einschlug und sich verkeilte: Der Suezkanal war blockiert. Gemäss Immens hätte der Unfall nur vermieden werden können, wenn der Kapitän «alles getan hätte, um die Geschwindigkeit zu senken.» Doch dies sei zu keiner Zeit aus den Daten erkennbar.
«Man wird es nie erfahren»
Was zwischen der Einfahrt des Frachters um 5.10 Uhr und dem Einschlag um 5.40 Uhr auf der Brücke vorging, weiss Gerald Immens nicht. Sicher ist: Ein Kapitän sei auf den Lotsen angewiesen, übertrage diesem aber ungern das Kommando. Denn der Lotse stehe immer wieder auf Schiffen, die er noch nie gefahren ist. Immens: «Stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen in einem Airbus A380 und der Co-Pilot sagt per Lautsprecherdurchsage: ‹Ich bin so ein Riesending noch nie geflogen und probiere das heute mal aus.› Da würden Sie Schweissausbrüche bekommen.» Der Lotse erteile zwar die Kommandos, die Schiffsführung müsse aber «unbedingt hundert Prozent fokussiert bleiben und immer mit aufpassen.»
Nachdem das Schiff im März wieder freigeschaufelt worden war, hielt Ägypten es zurück, bis die Eignerinnen und Eigner eine bestimmte Summe für den Schaden bezahlt hatten. Bei der Übereinkunft habe man sich wohl geeinigt, über die Schuldfrage zu schweigen. Und Panama, wo die Ever Given registriert ist, sei «nicht gerade bekannt für tiefschürfende Analysen solcher Vorfälle.» Immens: «Ich fürchte, die Öffentlichkeit wird nie erfahren, was sich da wirklich auf der Brücke zugetragen hat.»
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