Ukraine: Morphium für verletzte Soldaten – «viele sterben bald»

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Ann in der UkraineFrontsanitäter Serhiy – «Vielen können wir nur noch Morphium geben»

Der 29-jährige Serhiy Zaycev lebt wenige Kilometer von der Kriegsfront entfernt. Ein Gespräch mit dem Sanitäter über die Schrecken des Kriegs, Phosphorbomben – und Tee-Zeremonien.

Serhiy Zaycev arbeitete vor dem Krieg in Odessa auf der Intensivstation. Jetzt ist er Kriegssanitäter. 
20-Minuten-Reporterin Ann Guenter konnte Zaycev in seinem Zuhause nahe der Front besuchen. 
Zaycev lebt an der Front zwischen Toretsk und Bachmut. 
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Serhiy Zaycev arbeitete vor dem Krieg in Odessa auf der Intensivstation. Jetzt ist er Kriegssanitäter. 

20min/Ann Guenter 

Darum gehts

  • Der ukrainische Notfallsanitäter Serhiy Zaycev befindet sich seit bald einem Jahr im Kriegseinsatz.

  • 20-Minuten-Reporterin Ann Guenter hat ihn in Bachmut besucht und mit ihm über das Leben an der Front, den Krieg und seine Arbeit gesprochen.

20-Minuten-Reporterin Ann Guenter berichtet von der Kriegsfront in der Ukraine.

Soldat Jewgeni (23), Callname Fox, zeigt sein Handy beim Checkpoint: Jeden Tag werden den ukrainischen Soldaten zwei neue Passwörter geschickt, die sie vorweisen müssen.

Wir sind auf dem Weg zum Notfallsanitäter Serhiy Zaycev (29) an der Front zwischen Toretsk und Bachmut. Er lebt dort als Arzt des 29. Sturmbataillons in einem Haus im verlassenen Dorf Bila Gora. Wir sind 3,7 Kilometer von der Bachmut-Front entfernt. Erst ist der Himmel bedeckt und es schneit. Innert einer Stunde klärt es auf und die Artilleriegefechte nehmen stark zu.

Sergej giesst Pu-Erh-Tee in farbige Keramikschalen ein. Er habe jetzt Zeit gehabt, ein Buch über die chinesische Teezeremonie zu lesen, sagt er. In dem kleinen Raum mit Holzofen duftet es nach Räucherstäbchen, im Nebenraum schlafen einige Männer tief. «Ich höre hier auch meditative Musik», sagt Serhiy und lacht. «Ich bin voll Zen.»

Die Front macht um dieses Dorf einen Bogen. Die Männer warten auf einen Notfalleinsatz, während die Raketen über ihr Häuschen donnern. Was ein kurzes Interview werden sollte, wird ein zweistündiges Gespräch. Über Serhiy und seine gefährliche Arbeit, über den Krieg, Müdigkeit und angeknackste Zuversicht und Phosphorbomben.

Serhiy, was hast du im zivilen Leben gemacht?

Ich habe auf der Intensivpflegestation in Odessa gearbeitet, mein Fokus ist eigentlich Kardiochirurgie. Während der Pandemie habe ich auf der Notfallstation die Corona-Patienten betreut. Abgeschlossen habe ich aber erst, als der Krieg 2022 schon begonnen hatte. Ich vermisse das Leben als Arzt in einem Spital sehr.

Seit wann arbeitest du als Kampfsanitäter?

Am 8. Mai bin ich an die Front gegangen. Es ist hier weniger sauber als in einem Spital und es gibt auch keine Frauen hier. Ansonsten ist meine Arbeit fast dieselbe wie zuvor. Zuerst waren wir bei einer Verteidigungsposition und in einer Kampfposition bei Cherson stationiert, ab November wurden wir vor die Bachmut-Front verlegt. Also seit vier Monaten. Ich war gar nicht vorbereitet. An einem Tag sass ich beim Znacht mit der Familie, am nächsten war ich an der Front. Erst dort habe ich gelernt, mit einer Waffe umzugehen. Das war schon hart.

«Wir durchleben hier jeden Tag einen Albtraum.»

Notfallsanitäter Serhiy Zaycev (29)

Warst du in der Zwischenzeit daheim?

Ja, war ich. Auch jetzt warte ich darauf, dass man mir eine oder zwei Wochen frei gibt. Ich bin erschöpft. Es ist unbeschreiblich, stets diese zerfetzten Körper zu sehen, ein Albtraum, den man jeden Tag hat. Ich habe an Zuversicht verloren. Hoffentlich kommt sie nach einer Auszeit wieder.

Wie sieht der Arbeitsablauf aus, wenn man überhaupt von Ablauf reden kann?

Ein gepanzerter Wagen fährt zur 0-Linie, um Verwundete aufzuladen. Wir treffen diesen in der sogenannten Grauen Zone, wo der Verletzte in unseren Wagen verlegt wird. Wir bringen ihn dann in das Spital von Druschkiwka, wo er weiter behandelt wird. Wir versuchen, den Weg jeweils in einer Stunde zu schaffen. Diese Stunde nennen wir die Goldene Stunde, weil sie je nach Verletzung entscheidend ist. Wichtig ist es, Blutungen zu stoppen und Druckverbände anzulegen. Wir schneiden seine Kleidung auf, verabreichen Schmerzmittel und schienen gebrochene Knochen. Wir können aufs Mal bis zu vier Soldaten transportieren. Sind es mehr, was in diesem Artilleriekrieg meistens der Fall ist, müssen wir improvisieren oder im Notfall eine Triage vornehmen.

Und das tust du Tag für Tag?

Manchmal passiert fünf Tage lang nichts und wir warten. Oder dann ist tagelang die Hölle los.

Was sind die häufigsten Verletzungen?

Schrapnellverletzungen. Wir sehen von relativ leichten Wunden bis völlig zerfetzten Körpern alles. Wir müssen schnell alle Wunden finden, was nicht immer einfach ist. Manchmal kommt schlicht jede Hilfe zu spät, gerade wenn Schrapnelle den Oberkörper getroffen haben. Dann können wir nur noch Morphium geben, nach 15 Minuten sterben die meisten.

Das Gespräch wird durch zunehmenden Beschuss von der nahen Front unterbrochen. Es hat aufgehört zu schneien, der Himmel klärt sich auf.

«Wir schneiden bei Phosphorverletzungen das Fleisch weg, das damit in Berührung kam.»

Notfallsanitäter Serhiy Zaycev (29)

Das ist schon beängstigend.

Ja. Sie schiessen über diese Hügelkette, meistens mit Grad-Raketen. In Mikolajew bei Cherson wurden auch Phosphorbomben eingesetzt. Aus der Ferne eigentlich hübsch anzuschauen, wie ein Feuerwerk, ich habe davon ein Video aufgenommen (zeigt es).

Kann man Phosphorverletzungen behandeln?

Ja. Wir schneiden möglichst das Fleisch weg, das damit in Berührung kam.

Soldaten erleiden oft eine posttraumatische Belastungsstörung. Du auch?

Jeder, der länger als drei Monate an der Front ist, erkrankt daran. Man könnte sagen, dass mittlerweile das ganze Volk diese Störung hat.

Hast du dich freiwillig zum Sanitätsdienst an der Front gemeldet?

Nein, ich wurde wegen meiner Ausbildung dazu eingeteilt. Ich hatte keine militärische Erfahrung. Ich habe viele Fertigkeiten im Krieg gelernt. Wenn man überleben will, muss man dazulernen. Sonst stirbt man. Der Krieg ist ein grosser Lehrmeister.

«Ich drehte mich um, und die Welt stand in Flammen.»

Notfallsanitäter Serhiy Zaycev (29)

Wann hattest du bis jetzt am meisten Angst?

Meistens verspüre ich erst im Nachhinein Angst. Ich muss mich fokussieren und habe keine Zeit, auf Gefahren zu achten. Da gab es einen Moment, als ich einen verletzten 19-jährigen Soldaten versorgte. Ich hörte zwar das Geräusch, aber registrierte nicht wirklich, dass ein russischer Jet eine Bombe abwarf. Bei der Explosion drehte ich mich um, und die Welt stand in Flammen. Aber ich blieb unverletzt und machte weiter. Ich hatte damals keine Angst, stand wohl auch etwas unter Schock. Irgendwie überlebte ich auch den Einschlag einer Iskander-Rakete oder den Einschlag in ein Gebäude in Chasiv Yar nahe Bachmut. Ein anderer Sanitäter hatte damals kein Glück. Er starb. Heute zittere ich, wenn ich an all das denke, vor allem, wenn um mich Stille herrscht. Man muss weitermachen, denn Angst ist ein kleiner Tod. Eigentlich ironisch. Mein Nachname, Zaycev, bedeutet Hase auf Ukrainisch.

Wie viele Soldaten hast du bislang verloren?

Vier sind unter meinen Händen gestorben.

Und wie viele konntest du retten?

Ich zähle nicht. Bestimmt über hundert. 

Beschäftigt dich oder jemanden, den du kennst, der Krieg in der Ukraine?

Hier findest du Hilfe für dich und andere:

Fragen und Antworten zum Krieg in der Ukraine (Staatssekretariat für Migration)

Kriegsangst?, Tipps von Pro Juventute

Beratungsangebot (Deutsch, Ukrainisch, Russisch), von Pro Juventute

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Anmeldung und Infos für Gastfamilien:

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