Immer am Gamen«Totale Abstinenz geht bei dieser Sucht nicht»
Immer mehr Jugendliche leiden an Onlinesucht. Ein kalter Entzug ist in der heutigen Welt kaum möglich, darum arbeiten Therapeuten mit den Betroffenen am richtigen Umgang.
Maxim (21) litt an einer Onlinesucht. Ein längerer Aufenthalt auf einem Bauernhof hat ihm geholfen.
20minDarum gehts
Kinder- und Jugendpsychiatrien sind überlastet, mit monatelangen Wartezeiten. Der Grund: die Sucht nach Social Media und Online-Games.
Diese Art von Sucht wird oft nicht ernst genug genommen und führt zu sozialen Problemen.
Therapien setzen auf Medienkompetenz statt Abstinenz, da eine komplette Vermeidung von Medien unrealistisch ist.
Kinder- und Jugendpsychiatrien sind am Anschlag, es gibt monatelange Wartezeiten. Elfjährige verschanzen sich teils komplett in ihrem Zimmer und verkümmern dadurch sozial. Ein Grund dafür ist die Sucht nach Social Media und Online-Games. Auch Fachleute schlagen Alarm.
Die Psychologin Anna Kronenberg arbeitet in der Klinik Selhofen in Burgdorf und behandelt dort Menschen mit Suchtproblemen. «Bisher spricht man vor allem von Alkohol- oder Drogensucht. Die Onlinesucht wird noch zu wenig ernst genommen.» Das, obwohl die Zahlen längst besorgniserregend seien.

Anna Kronenberg ist Psychologin an der Klinik Selhofen und behandelt Menschen mit Onlinesucht.
Klinik SelhofenLaut dem Schweizer Suchtpanorama 2024 weisen drei Prozent der 15-jährigen Gamerinnen und Gamer eine problematische Nutzung auf. Bei Social Media sind es sieben Prozent. «Das allein macht noch keine Sucht, es kann aber zu einer werden», sagt Kronenberg. Diagnostiziert werde eine Onlinesucht unter anderem anhand von drei Kriterien, die auch für alle anderen Süchte gälten: Kontrollverlust, Priorisierung gegenüber allen anderen Interessen, Weitermachen trotz negativer Konsequenzen.
«Viele von uns sind zu oft am Handy»
Einen klaren Unterschied gebe es aber: «Eine Mediensucht fällt in der Gesellschaft viel weniger auf, weil viele von uns zu oft am Handy sind», sagt Kronenberg. Oft meldeten sich besorgte Angehörige bei ihr in der Klinik, nicht die Betroffenen selbst. Auch, weil die Eltern selbst noch weitgehend analog aufgewachsen sind, heisst, ihnen fällt die exzessive Nutzung mehr auf. Was ist mit den Kindern der Digital Natives? «Die Vermutung liegt nahe, dass es dann weniger auffallen könnte.»
Während der Behandlung werde unter anderem das Bewusstsein für die Mediennutzung – das auch Nicht-Süchtigen oft fehle – geschärft. Immer wieder kämen die Onlinesüchtigen in stationärer Behandlung auf die Psychologin zu: «Sie beklagen sich darüber, dass sie ihr Smartphone abgeben müssen, alle anderen in der Klinik aber dauernd am Handy hängen.» Das wertet Kronenberg als Fortschritt. «Davor wäre das den Betroffenen nie aufgefallen, auch nicht im eigenen Freundeskreis.»
Wie häufig nutzt du Computerspiele?
Medienkompetenz statt Abstinenz
Wegen dieser allgegenwärtigen Nutzung ist bei der Onlinesucht totale Abstinenz im Gegensatz zu einer Alkohol- oder Drogensucht nicht möglich. «Wir alle sind auf Medien angewiesen – in der Freizeit und bei der Arbeit.» Deshalb werde in der Therapie stattdessen auf Medienkompetenz gesetzt. Wir arbeiten mit einem Ampelsystem.» Grün sei alles, was wenig Suchtpotenzial aufweise, wie E-Banking, E-Mails und sonstige administrative Aufgaben. Orange bedeute: Da brauche ich klare Regeln. Und Rot seien alle Games oder andere Medieninhalte, bei denen Betroffene die Kontrolle verlören. «Davon müssen sie sich dann wirklich verabschieden.»
«Digital Addict Anonymous»
Seit kurzem gibt es in Luzern eine physisch stattfindende Selbsthilfegruppe, die auf den digitalen Konsum spezialisiert ist. Auch dort gehe es nicht um «Digital Detox», sondern einen bewussten Umgang mit Medien, berichtet das Nachrichtenportal «Zentralplus». Gegründet wurde die Gruppe für Digitalsüchtige von der Studentin Sofiia Kaminska. Sie studiert Digital Ideation – eine Mischung aus Informatik und Design – an der Hochschule Luzern, womit sie sich nach eigenen Aussagen im Epizentrum des digitalen Konsums befände.
Die Onlinesucht sei eine Sucht mit sehr viel Selbstverantwortung und Parallelen zu der Glücks- und Geldspielsucht. In Casinos dürfe niemand unter 18 Jahren, auch bei Online-Glücksspielen könne man sich sperren lassen. «Im Bereich Gaming läuft die Entwicklung jedoch derart schnell, dass Politik und Gesellschaft hinterherhinken», sagt der Sozialarbeiter Pascal Reusser.
Ein Beispiel hierfür seien die sogenannten Freemium-Spiele. Diese werden zu Beginn kostenlos heruntergeladen. Für ein erfolgreiches Spielerlebnis müssen jedoch im Verlauf des Spiels kostenpflichtige Features (Lootboxen) gekauft werden. «Die Stiftung Sucht Schweiz beanstandete in diesem Bereich in jüngster Vergangenheit ungenügenden Jugendschutz und Optimierungsbedarf nach weiteren Schutzmassnahmen. Der Bundesrat lehnte jedoch weitere Massnahmen der nationalen Strategie Sucht vorerst ab.»
Beim Projekt Alp, wo Reusser arbeitet, werden die Jugendlichen deshalb erst einmal aus ihrem gewohnten Alltag geholt. «Für eine bestimmte Zeit wohnen sie in einer Gastfamilie auf dem Bauernhof und helfen dort mit.» Dort lernten sie, in der realen Welt klarzukommen, und könnten schnell kleine Erfolgserlebnisse feiern. «Sie müssen morgens aufstehen, sitzen mit der Familie am Tisch und erledigen kleine Arbeiten.» Eine solch klare Struktur fehle den Betroffenen oft.
Folgst du schon 20 Minuten auf Whatsapp?
Eine Newsübersicht am Morgen und zum Feierabend, überraschende Storys und Breaking News: Abonniere den Whatsapp-Kanal von 20 Minuten und du bekommst regelmässige Updates mit unseren besten Storys direkt auf dein Handy.