Interview mit Steinberg: «Angriffe auf Israel sind kein zeitlicher Zufall – unsere Feinde machen mobil»

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Interview mit Steinberg«Angriffe auf Israel sind kein zeitlicher Zufall – unsere Feinde machen mobil»

Nach dem Hamas-Angriff befindet sich Israel im Krieg. Auch die westliche Welt werde bereits direkt oder indirekt angegriffen, sagt Nahost- und Terrorexperte Guido Steinberg. 

Bei dem Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel wurden über 1400 Menschen getötet und mindestens 199 weitere in den Gazastreifen verschleppt, darunter auch Dutzende Staatsangehörige anderer Länder.
Als Reaktion auf den Angriff der Hamas nahm die israelische Armee den Gazastreifen unter Dauerbeschuss. 
Im Gazastreifen ist die Zahl der Toten durch israelische Angriffe nach Angaben der Hamas auf rund 3000 gestiegen. Mehr als 12’500 weitere Menschen seien verletzt worden, erklärte das Gesundheitsministerium der im Gazastreifen herrschenden Palästinenserorganisation am Dienstag.
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Bei dem Angriff der Hamas-Terroristen auf Israel wurden über 1400 Menschen getötet und mindestens 199 weitere in den Gazastreifen verschleppt, darunter auch Dutzende Staatsangehörige anderer Länder.

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Darum gehts

  • Die Terrororganisation Hamas hat Israel angegriffen. Im Nahen Osten droht ein Flächenbrand.

  • Gefahr durch die Hamas oder die Hisbollah droht allerdings auch dem Westen und Europa. 

  • Guido Steinberg befürchtet Anschläge gegen jüdische Ziele oder israelische Einrichtungen.  

  • Der renommierte Islamwissenschaftler und Terrorexperte warnt zudem: 

  • «Die Angriffe auf Israel sind kein zeitlicher Zufall: Unsere Feinde machen mobil.»

  • Ein Gespräch über die Risiken nach dem Angriff auf Israel, den schwachen Westen und Russland, der grosse Profiteur in dieser brenzligen Lage. 

Israel ist im Krieg. Sind wir in Europa sicher?

Nein, das kann man nicht mehr sagen. Die westliche Welt wird an ganz unterschiedlichen Stellen direkt oder indirekt angegriffen, von Russland, dem Iran, der Hisbollah oder der Hamas – und vielleicht dann bald auch von China. Die terroristische Bedrohungslage ist nur ein Teil dieses Gesamtbildes. Dabei geht von der Hamas oder Hisbollah aus meiner Sicht aktuell die grösste Gefahr aus.

Wieso? 

Weil diese Organisationen von einem Staat unterstützt werden. Und weil die Hamas und die Hisbollah nicht nur Terrororganisationen, sondern auch soziale Bewegungen sind. Damit ist ihr Rekrutierungspool viel grösser als der des IS oder al-Qaida. Sollte also eine Organisation wie die Hamas in Europa erfolgreich zuschlagen, müssen wir nicht nur mit sehr vielen Opfern rechnen, sondern auch damit, dass die Ziele sehr genau ausgesucht werden. Ich befürchte vor allem Anschläge gegen jüdische Ziele oder israelische Einrichtungen.  

«Ich befürchte Anschläge gegen jüdische Ziele oder israelische Einrichtungen.»  

Guido Steinberg

Gehören die Angriffe auf Israel in einen grösseren Kontext?

Ja. Es sind ja nicht nur die Israelis, die den Eindruck erwecken, nicht mehr so geschlossen, stark und verteidigungsfähig zu sein wie noch vor zwanzig oder dreissig Jahren. In den Augen der Feinde des Westens hat die grosse Schutzmacht USA selbst innenpolitische Probleme und zieht sich aus dem Nahen Osten zurück. Das dürfte ein wichtiger Grund dafür sein, dass wir im Westen im Moment angegriffen werden. Und ja, ich denke schon, dass man zumindest eine gedankliche Linie ziehen kann – von Moskau über Teheran nach Beirut und Gaza.

«Wir werden im Moment angegriffen» – woran machen Sie das fest?

Erstens an dem Krieg in der Ukraine. Zweitens an den Bemühungen Irans, eine Hegemonie im Nahen Osten und im Persischen Golf herzustellen. Wir sehen es auch an der Aufrüstung der Hisbollah und am Erstarken von Iran-treuen Milizen im Irak, in Syrien und im Jemen. Und wir sehen es jetzt an den Angriffen der Hamas. Insgesamt sind das Angriffe auf den Westen und seine liberalen Demokratien. Ich denke auch, dass die Angriffe auf Israel kein zeitlicher Zufall sind: Unsere Feinde machen mobil. 

«Ich sehe keine russischen Aktivitäten hinter dem Angriff der Hamas.» 

Guido Steinberg

Wieso gehen Sie von keinem zeitlichen Zufall aus?

Der Zusammenhang mag in der Praxis nicht immer so deutlich sein. So sehe ich etwa keine russischen Aktivitäten hinter dem Angriff der Hamas. Aber der Eindruck, dass der Westen insgesamt schwach ist, zerstritten und vielleicht sogar ein bisschen dekadent, ist bei unseren Feinden weit verbreitet. Und das lädt zu Angriffen aller Art ein, vielleicht bis hin zum jüngsten Anschlag in Brüssel. 

Russland mag nicht hinter dem Hamas-Angriff stehen. Dennoch: Profitiert Moskau von diesem Krieg?

Klar, Russland profitiert massiv davon. Die gesamte westliche Welt, also alle Gegner Russlands, schauen im Moment auf Gaza, auf die Hisbollah im Libanon und auch auf den Iran. Diese mangelnde Aufmerksamkeit ist natürlich nützlich für einen Aggressor. Und noch viel wichtiger: Wenn es in Israel zu einem längeren Krieg kommt, wird Israel einen erhöhten Bedarf an Waffen und Munition haben. Schon jetzt erhält das Land neue Boden-Luft-Raketen aus den USA. So ist es durchaus möglich, dass Zielkonflikte auftauchen und man sich in den USA, Deutschland oder Frankreich fragen muss, ob man die Ukraine oder Israel beliefern soll. So sind Herr Putin und seine Führung in Moskau auf jeden Fall einer der grossen Profiteure dieses Angriffs.  

«Wir müssen das ändern, wenn wir die nächsten Jahrzehnte überleben wollen.» 

Guido Steinberg

Sie sehen die westliche Welt insgesamt in Gefahr. Wie können wir uns schützen – und was, wenn uns das nicht gelingen sollte?  

Wir müssen uns der Gefahren viel bewusster werden. Denn innere und äussere Bedrohungslagen von Gesellschaften können sich schnell und dramatisch verändern, das erfahren die Israelis und die Menschen in Osteuropa gerade schmerzhaft. Zudem müssen wir daran arbeiten, reaktionsfähiger zu werden. 

Reaktionsfähiger in welchem Sinn?

Europa, sei es Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien, ist nicht in der Lage, sich eigenständig zu verteidigen. Das gilt für Gegner wie Russland oder den Iran, aber auch für die Terrorismusbekämpfung – wir sind überall massiv von den USA abhängig. Nächstes Jahr sind in den USA Wahlen, und wir wissen nicht, wer an die Macht kommt. Umso mehr müssen wir darauf hinarbeiten, unsere Verteidigung selbst übernehmen zu können. Der Ukraine-Krieg dauert bereits über eineinhalb Jahre. Und doch ist etwa Deutschland als grösster und wirtschaftlich stärkster Staat Europas militärisch fast handlungsunfähig. Das sehe ich als Krisenzeichen. Wir müssen das ganz schnell ändern, wenn wir die nächsten Jahrzehnte überleben wollen.  

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