«Jugend-Eskalationen werden sich häufen»

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Krawall-Wochenende«Jugend-Eskalationen werden sich häufen»

In mehreren Schweizer Städten eskalierten am Wochenende illegale Partys. Laut Präventionsexperte Roman Niedermann wird sich die Situation weiter zuspitzen – und langfristige Konsequenzen haben für die Jugendlichen.

Illegale Party: Auf dem Roten Platz in St. Gallen versammelten sich am Freitagabend hunderte Jugendliche.
Roman Niedermann, Regionalleiter Schweizerisches Institut für Gewaltprävention (SIG) und Dozent für Soziale Arbeit, ordnet die Situation ein – und erklärt, was die Polizei im Umgang verbessern könnte.
Um 22 Uhr rückte die Polizei mit einem Grossaufgebot aus.
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Illegale Party: Auf dem Roten Platz in St. Gallen versammelten sich am Freitagabend hunderte Jugendliche.

20min/News-Scout

Darum gehts

  • In mehreren Schweizer Städten wurde am Freitagabend illegal gefeiert. In St. Gallen kam es gar zu Ausschreitungen.

  • Laut Roman Niedermann vom Schweizerischen Institut für Gewaltprävention (SIG) wird sich die Situation weiter zuspitzen.

  • Die Polizei sei derzeit unerfahren im Umgang mit Krawall-Jugend – deshalb gehe jeder Kanton anders vor.

  • Wichtig sei eine Ausgewogenheit in den Massnahmen: «Im Leben geht es nicht nur um Gesundheitsthemen, der Mensch hat auch andere Bedürfnisse», sagt Niedermann.

Gummischrot, Böller und Flaschen flogen durch die Luft: In der Nacht auf Samstag eskalierte in St. Gallen eine illegale Strassenparty mit rund 200 Jugendlichen. Roman Niedermann, Regionalleiter Schweizerisches Institut für Gewaltprävention (SIG) und Dozent für Soziale Arbeit, ordnet die Situation ein – und erklärt, was die Polizei im Umgang verbessern könnte.

In den vergangenen Wochen eskalieren illegale Veranstaltungen Jugendlicher vermehrt. Weshalb?Roman Niedermann: Seit längerer Zeit wird ein Grundbedürfnis der jungen Erwachsenen unterdrückt: Das Treffen Gleichaltriger in Gruppen, ausserhalb des Elternhauses, das Ausbauen einer eigenen Welt. Das ist für Junge sehr wichtig und kommt einem Grundbedürfnis gleich – wie Essen und Trinken. In keiner anderen Phase im Leben ist dieses Bedürfnis grösser als im Jugendalter. Dass dieses nun massiv zu kurz kommt, zeigt sich im aggressiven Verhalten und in der Häufung psychischer Probleme bei Jugendlichen. Zudem testen Jugendliche gerne Grenzen aus. Für sie wirkt das illegale Treffen abenteuerlich, riskant.

Wie sollen die Polizei und Behörden auf diese Provokation der Jugendlichen reagieren?
Reagiert die Polizei mit Gewalt, erstaunt es nicht, dass die Jugendlichen dieses Verhalten spiegeln. Klar müssen Grenzen aufgezeigt werden, insbesondere wenn das Verhalten destruktiv ist - aber es ist immer eine Frage des Ausmasses. Wir empfehlen einen deeskalierenden Ansatz und eine pragmatische Abwägung, was im jeweiligen Fall Sinn macht. Derzeit reagiert jede Polizei unterschiedlich. Man ist offenbar unsicher, wie man mit der Problematik umgehen soll. Jugendkrawalle liegen in der Schweiz Jahrzehnte zurück, es fehlt die Erfahrung.

Die St. Galler Polizei war vorbereitet

«Die Versammlung am Freitag kam für uns nicht überraschend», sagt Dionys Widmer, Pressesprecher der Stadtpolizei St. Gallen. Die Polizei prüfe jeweils Hinweise auf solche Veranstaltungen wie die illegale Party bei den Drei Weieren. «Mit der Einladung zur Party wurden auch Gewaltaufrufe geteilt», sagt er. Ein solches Monitoring von Veranstaltungen sei Teil des Polizeialltags. Der Einsatz am Freitag sei aber nicht alltäglich. «Solche Szenen hatten wir schon sehr lange nicht mehr», sagt Widmer. «Wir versuchen immer zuerst im Dialog die Situation zu deeskalieren.» Als die Polizisten auf dem roten Platz dann mit Flaschen und Steinen beworfen worden seien, habe man sich entschlossen einzuschreiten: Die Polizei löste die Versammlung schliesslich mit Gummischrot und Reizmitteln auf. Ob es die nächsten Wochenenden wieder zu solchen Szenen kommen wird, kann Widmer nicht sagen. «Wir hatten Kenntnis vom Partyaufruf und waren entsprechend vorbereitet.» Solche Grosseinsätze würden standardgemäss analysiert und nachbesprochen, um Optimierungsbedarf zu erkennen.

Was müsste geschehen, um die Situation zu entspannen?
Wichtig ist ein Ansatz auf Augenhöhe, damit junge Erwachsene merken, dass ihre Anliegen ernst genommen werden. Beispielsweise mit dem Ausbau mobiler Jugendarbeit im öffentlichen Raum, Thematisierung an Schulen, der Ausbau von Treffpunkten für Jugendliche, die Corona-konform sind.
Weiter sollten die Corona-Massnahmen auf ihre Ausgewogenheit geprüft werden: Im Leben geht es nicht nur um Gesundheitsthemen, der Mensch hat auch andere Bedürfnisse. Derzeit wird vor allem die Balance zwischen wirtschaftlichen und gesundheitspolitischen Anliegen diskutiert. Wichtig sind aber auch soziale Ansprüche, die derzeit massiv zu kurz kommen und zu wenig thematisiert werden. Daraus folgen entsprechend andere Probleme, die sich wiederum auf die Gesundheit und das Verhalten der Jugendlichen auswirken. Wichtig ist, dass dieses Thema nicht zum Tabu wird. Man muss gemeinsam mit den jungen Menschen Lösungen suchen, wie soziale Bedürfnisse ausgelebt werden können unter den momentanen Bedingungen.

Könnten die Corona-Massnahmen längerfristige Auswirkungen auf die Jugendlichen haben?
Junge Menschen kommen in finanzielle Nöte, weil sie keine Jobs mehr finden, das Studium ist im Fernunterricht nicht mehr spannend, Freunde darf man nicht treffen: Diese und ähnliche Faktoren führt zu einer Multiplizierung von Problemen. Man sollte mehr gesamtheitlich denken und mögliche Folgeprobleme nicht ignorieren. Kommt jemand in dieser aufgeheizten Phase mit der Polizei in Kontakt, kann dies mit einem Strafregister-Eintrag Job-Chancen zunichte machen. Und auch psychische Probleme können zu Schwierigkeiten bei Prüfungen oder der Lehrstellen-Suche führen.

Wie wird sich die Situation weiterentwickeln?
Solche Eskalationen wie in St. Gallen werden sich in naher Zukunft häufen, die Situation wird sich weiter zuspitzen. Die Temperaturen steigen, die Treffen an den Wochenend-Abenden gehören zur Jugendkultur. Durch das fehlende Freizeitangebot und die dadurch unbefriedigten sozialen Bedürfnisse nimmt das aggressive Verhalten und die Gereiztheit unter den Jugendlichen zu, in Schulen und Sozialinstitutionen kommt es häufiger zu Eskalationen. Einen Nährboden bietet auch die ambivalente Haltung in der Politik zu Covid-Massnahmen: Das zeigt den Jugendlichen, dass sich auch die Erwachsenenwelt sich nicht einig ist, überzeugende Vorbilder fehlen.

Jugendgewalt nimmt zu

Die Jugendkriminalität steige seit 2015 konstant, sagt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der ZHAW. Statt Probleme kommunikativ zu lösen, werde öfter mit Aggression, verbaler Herabsetzung oder Gewalt reagiert. Dies zeigt sich auch in den Zahlen der Kriminalstatistik 2020, die vergangene Woche publiziert wurde. Auffallend ist, dass Minderjährige immer mehr schwere Gewalt ausüben: Etwa bei den versuchten und vollendeten Tötungsdelikten verdreifachte sich die Zahl der Delikte mit Messern oder anderen Stichwaffen (36 Fälle). Auch bei schweren gewalttätigen Auseinandersetzungen werden laut der neuen Zahlen weniger die Fäuste, aber immer häufiger Schneid-, Stich oder Schlagwaffen verwendet. Jugendliche beteiligten sich laut der Kriminalstatistik auch häufiger an Angriffen auf andere Personen (468 Fälle, +75) oder verübten Raubüberfälle (648 Fälle, +213).

Polizeieinsatz am Freitagabend in St. Gallen: Auf dem Roten Platz feierten mehrere hundert Jugendliche.

20min/News-Scout/BRK

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