Lieferengpässe – «Bisher ist so etwas nur in Kriegszeiten vorgekommen»

Publiziert

Lieferengpässe«Bisher ist so etwas nur in Kriegszeiten vorgekommen»

67 Prozent der Industrieunternehmen rechnen im nächsten Halbjahr mit Lieferproblemen, hinzu kommt der Preisanstieg. Mit Kurzarbeit wollen Firmen Entlassungen verhindern. Wie schlimm trifft uns die Krise in der Wirtschaft?

Chip- und Rohstoffmangel machen Industrie und Handel zu schaffen.
Die globale Lieferkette hat Lücken seit der Corona-Krise. Gründe sind Massnahmen gegen die Corona-Krise, der rasch einsetzende Aufschwung, Naturkatastrophen und Handelskriege.
Industriefirmen fehlen deshalb zahlreiche Rohstoffe und Komponenten.
1 / 8

Chip- und Rohstoffmangel machen Industrie und Handel zu schaffen.

REUTERS

Darum gehts

Die Industrie hat volle Auftragsbücher und kann doch nicht arbeiten, weil ihr die Rohstoffe fehlen. Massnahmen gegen die Corona-Krise oder die stark gestiegene Nachfrage wegen eines zu rasch einsetzenden wirtschaftlichen Aufschwungs; derzeit kommt grad alles zusammen, was dem Welthandel zusetzt und Risse in der Lieferkette verursacht.

So fehlen etwa weiterhin Metalle, Holz, Karton, Kunststoffe und Elektronik. Der Rohstoffmangel lässt Hersteller aus zahlreichen Branchen verzweifeln, ob Uhrenindustrie, Maschinenbau oder Pharmaindustrie. Claude Maurer, Chefökonom Schweiz der Credit Suisse (CS), erwartet erst Mitte 2022 eine Erholung, wie er am Dienstag an einem Pressetermin sagte. Die Folge sind leere Regale bei zahlreichen Produkten (siehe Box).

An Weihnachten fehlen Ski und Velos

Der Chip-Mangel könnte sogar bis 2023 bestehen bleiben, weil es lange Zeit braucht, eine Chip-Fabrik wieder hochzufahren oder gleich neu zu bauen. Laut Analyse von Goldman Sachs leiden darunter 169 unterschiedlichste Branchen. Denn mittlerweile stecken Computer-Chips in fast allen Apparaten, ob im PC, in der Playstation 5, im Handy, in Haushaltsgeräten oder im Auto.

67 Prozent der Industriefirmen erwarten Lieferprobleme

CS-Ökonom Maurer verwies auf eine Umfrage, wonach 67 Prozent der Schweizer Industrieunternehmen auch im nächsten halben Jahr mit Lieferproblemen rechnen. Ein Fünftel dieser Firmen geht gar davon aus, dass sie wegen fehlender Komponenten im kommenden Halbjahr auf Kurzarbeit setzen müssen. Solange sie darauf zurückgreifen können, soll es aber nicht zu Entlassungen kommen, sagt Maurer.

Gemäss dem Wirtschaftsdachverband Economiesuisse dämpfen die Lieferprobleme das Wirtschaftswachstum in der Schweiz noch bis ins zweite Halbjahr. Denn die Lieferengpässe reduzieren laut Chefökonom Rudolf Minsch die Umsätze der Unternehmen, weil sie die Nachfrage nicht befriedigen können.

Die Firmen werden laut Minsch einen Teil der verlorenen Umsätze nachholen können. «Allerdings wird ein Teil der Kundschaft auf andere Produkte ausweichen, sodass diese Umsätze verloren sein werden.» Wie gross dieser Anteil ist, sei derzeit aber kaum abschätzbar.

Weil die Firmen mehr für die knappen Rohstoffe bezahlen müssen, erhöhen sie auch ihre Verkaufspreise. Die Credit Suisse korrigierte deswegen ihre Prognose zur Preissteigerung für 2022. Neu erwartet sie im nächsten Jahr um ein Prozent höhere Preise, statt zuvor um nur 0,5 Prozent.

Knappheit bis weit ins nächste Jahr

Die Konsumenten und Konsumentinnen in der Schweiz müssen sich zusätzlich zu den höheren Preisen auch noch länger in Geduld üben, wenn sie auf ein bestimmtes Produkt warten. Die Nachfrage nach Gütern bleibt laut Maurer hoch und das dürfte verzögerungsbedingt auch bis weit ins nächste Jahr noch so bleiben.

Auf die Schweizer Gesamtwirtschaft hat der Umsatzeinbruch in der Industrie keinen grossen Einfluss, sagt CS-Ökonom Maurer. Die Schweizer Wirtschaft erhole sich gut von der Krise und die Industrie profitiere von einer Erholung am Arbeitsmarkt, die neue Fachkräfte bringe und die Konsumentenstimmung verbessere. Geräte mit Chips werden grösstenteils importiert, dieser Mangel trifft die hiesigen Hersteller deshalb wenig.

Bisher nur in Kriegszeiten

Weltweit trifft es einige härter als in der Schweiz. Auch in Europa kommt laut dem Ökonomen Nervosität auf, weil die Preise wegen der Engpässe stärker steigen als erwartet. In Deutschland stiegen die Preise zuletzt um 5,2 Prozent. Für das laufende Quartal bis Ende Jahr rechnen Experten und Expertinnen des Münchner Wirtschaftsinstituts Ifo mit einem schrumpfenden Bruttoinlandsprodukt.

Dass der Konsumgesellschaft die Konsumgüter ausgehen, gibt es selten, sagt Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann von der Uni Zürich. «Bisher ist so etwas nur in Kriegszeiten oder in den Perioden unmittelbar nach grösseren Kriegen bei der Umstellung von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft vorgekommen», sagt Straumann. So schlimm wie in der Finanzkrise 2008 soll es für die Wirtschaft zwar nicht werden, es braucht laut Straumann aber «noch eine gewisse Zeit», bis sich Angebot und Nachfrage wieder eingependelt haben.

My 20 Minuten

Deine Meinung zählt

162 Kommentare
Kommentarfunktion geschlossen