Bern: Opfer erzählt von feiger Steinwurfattacke

Aktualisiert

Marco (30)«Wieso tat er mir das an?» – Killer wirft 10-kg-Stein auf Berner

Der Feierabend-Spaziergang wird für Marco zum Nahtoderlebnis. Eine DNA-Spur zeigt: Er ist damit nicht alleine. Der mutmassliche Täter hat in ganz Europa Leute attackiert, in einem Fall gar getötet.

Horror-Tat: Marco (30) wurde auf dem Nachhauseweg mit einem Stein attackiert.
Die Tatwaffe: Dieser Stein wurde dem Ostschweizer aus sechseinhalb Metern Höhe auf den Kopf geworfen.
Der Tatort: Die BLS-Unterführung an der Berner Schwarzenburgstrasse.
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Horror-Tat: Marco (30) wurde auf dem Nachhauseweg mit einem Stein attackiert.

20min/Matthias Spicher

Darum gehts

  • Am 8. Oktober 2024 wird Marco aus dem Nichts mit einem schweren Stein lebensbedrohlich am Kopf verletzt.

  • Der 30-Jährige schildert im Gespräch mit 20 Minuten die perfide Attacke aus sechseinhalb Metern Höhe.

  • Was macht die Information mit dem Betroffenen, dass der mutmassliche Täter wenig später jemanden tötete?

«Jasmin, öppert het mir en stei uf de kopf gworfe vonere bruck. Bin jetzt im spital.» Diese Whatsapp-Nachricht erhält Marcos Ehefrau (beide Namen geändert) am 8. Oktober 2024 um 20.40 Uhr. Wenige Minuten zuvor wird ihr Mann, als in der Stadt Bern unterhalb einer Unterführung hindurchlaufen möchte, von einem zehn Kilogramm schweren Stein lebensbedrohlich am Kopf getroffen – aus 6,5 Metern Höhe.

Die Tatwaffe: Dieser Stein wurde dem Ostschweizer aus sechseinhalb Metern Höhe auf den Kopf geworfen.

Die Tatwaffe: Dieser Stein wurde dem Ostschweizer aus sechseinhalb Metern Höhe auf den Kopf geworfen.

Privat

«Ich bin zunächst überhaupt nicht draus gekommen», schildert die 30-Jährige gegenüber 20 Minuten, «mit so etwas rechnet man doch nicht.» Dafür rechnet an jenem Dienstagabend Marco – und zwar in der Ambulanz: «Ich habe mir einfache Rechenaufgaben gestellt, um zu checken, ob mein Gehirn noch funktioniert», erklärt der ebenfalls 30-Jährige, als er gut einen Monat später mit 20 Minuten die Stelle des Geschehens besichtigen geht.

Tatort Schwarzenburgstrasse

Die tragische Geschichte ereignet sich an einem eigentlich so harmlosen Wochentag. Marco geht morgens zur Arbeit – beim Staatssekretariat für Migration SEM. Marco wohnt der Stelle wegen unter der Woche in Bern. Am Feierabend kauft er beim Eigerplatz noch kurz ein. «Gemüse, Kartoffeln, irgendeine Suppe hatte ich vor», so Marco. Essen wird er die Zutaten nie. Den Spaziergang zu seiner Wohnung in Liebefeld tritt der Ostschweizer aber noch an, obwohl Regen einsetzt: «Nach so einem Tag im Büro wollte ich mir noch kurz die Beine vertreten.»

Er läuft die Schwarzenburgstrasse entlang, am Restaurant Süder vorbei. Dann folgt die Kreuzung mit der Weissensteinstrasse und schliesslich die Unterführung unterhalb der BLS-Zuglinie hindurch. Gerade als der 30-Jährige bei jener Unterführung ankommt, knallts. Marco sieht noch einen Sekundenbruchteil etwas Grosses auf sich zufliegen, dann schlägt es ein: «Plötzlich spürte ich diesen immensen Schlag auf den Schädel, von da an dröhnte es nur noch im Kopf, richtig laut», schildert er, «ich habe für einige Sekunden nichts mehr gehört und gesehen.»

Der Tatort: Die BLS-Unterführung an der Berner Schwarzenburgstrasse.
Am Restaurant Süder vorbei, über die Kreuzung – dann knallte es.
Marco ging mit 20 Minuten an den Ort des Geschehens zurück ...
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Der Tatort: Die BLS-Unterführung an der Berner Schwarzenburgstrasse.

Privat

Dann spielte der Film ab

Marco bleibt stehen. Zunächst. Völlig verdutzt schaut er sich um, merkt, wie sich seine Jacke zusehends mit Blut vollsaugt. Er wählt noch den Notruf. Referenzpunkt: Restaurant Süder. «Dorthin wollte ich laufen, um von den Rettungskräften gefunden werden zu können», erinnert er sich. Doch die Kraft reicht nicht: «Nach zwei Schritten sind meine Beine schwach geworden und ich musste mich an der Wand der Unterführung hinkauern.» Für Marco beginnen bange Minuten: «Ich wurde immer schwächer, merkte, wie ich langsam wegtrete.» In seinem Kopf spielt der Film ab, Erinnerungen aus der Kindheit, Bilder von geliebten Personen.

«Alles wunderschöne Erinnerungen», so Marco. Doch er verstand sofort: «Ich wollte raus aus dem Film, weil ich verstand, dass ich nicht mehr viel Zeit hatte.» Wie sich später bestätigen sollte, durchlebt Marco in jenen Minuten ein Nahtoderlebnis. Er friert und hofft auf Hilfe von vorbeigehenden Passanten. Diese laufen eigentlich zahlreich vorbei. Immerhin war es Feierabendzeit.

Bis heute habe Marco Angst, wenn er unter Brücken und Unterführungen hindurchläuft: Marco im Gespräch mit 20 Minuten.

Bis heute habe Marco Angst, wenn er unter Brücken und Unterführungen hindurchläuft: Marco im Gespräch mit 20 Minuten.

20min/Matthias Spicher

Passanten helfen lange nicht

Nur: Helfen will vorerst niemand. Noch heute beschäftige ihn die gleichgültige Art und Weise, wie – in seiner Erinnerung – mindestens vier Menschen an ihm vorbeilaufen, ohne zu reagieren. Trotz Blutlache, trotz schwer verletzter Person, trotz Zehn-Kilo-Stein daneben liegend. «Ich meine, ich kam von der Arbeit und war entsprechend in Business Casual gekleidet, ich sah nicht wie ein Penner aus», enerviert sich Marco. «Und auch ein Penner sollte doch Hilfe kriegen in so einer Situation.»

Schliesslich sind es zwei Jugendliche, die zwar erst vorbeigehen, dann aber umdrehen. Einer ruft die Ambulanz, ein anderer holt im Süder Servietten, um die Blutung am Kopf zu bremsen. «Es mag komisch klingen, aber ich hatte mich vor allem sehr einsam gefühlt», schildert Marco die bangen Momente, bevor er Hilfe bekommen sollte, «als die Jungs da waren, spürte ich vor allem eine Erleichterung.»

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20min/Matthias Spicher

Überlebenschancen standen schlecht

Nach weiteren gut 20 Minuten sei dann die Ambulanz eingetroffen. Es folgten der Blaulicht-Transport ins Spital Salem, selbst gestellte Rechenaufgaben im Rettungswagen – und der Schockraum in der Notaufnahme. Die Erinnerungen sind häppchenweise vorhanden. Eine Erinnerung bzw. eine Rechnung ist in Marcos Gedächtnis noch glasklar vorhanden: «Ein Arzt hat mir relativ bald gesagt, dass bei einem solchen Vorfall die Überlebenschancen sehr tief seien.»

Die Folgen des Tages: Marco wird lebensbedrohlich am Kopf verletzt.

Die Folgen des Tages: Marco wird lebensbedrohlich am Kopf verletzt.

Privat

Marco hat Glück – im Unglück? «Von Unglück zu sprechen, finde ich schwierig», winkt er ab, «sagen wir einfach, ich hatte Glück.» Die physiologische Bilanz: Eine riesige Kopfwunde, ein schweres Schädel-Hirn-Trauma, motorische Beeinträchtigungen. Die psychologische Bilanz: Posttraumatische Belastungsstörung, Monate ohne Schlaf, von nun an Angst, auf die Strasse zu gehen, und die Mammutaufgabe, eine für ihn so zentrale Frage zu klären: «Wollte mich tatsächlich jemand töten oder war das alles einfach ein unglaublich unglücklicher Zufall?»

«Er wollte mich umbringen»

Erst diese Woche, im März 2025, erhält Marco eine indirekte Antwort per Post – und zwar in Form der Verfahrensakten von der Staatsanwaltschaft. Daraus geht hervor, dass der mutmassliche Täter, ein 27-jähriger Levis E., nach dem Vorfall in Bern eine regelrechte Blutspur durch Europa zog – bewaffnet mit Steinen oder Betonklötzen.

«Was macht man nun mit so einer Information?», wirft Marco auf. Natürlich habe er nun etwas Klarheit. «Aber wenn die Klarheit eine solche ist, ist das halt schon auch schwierig zu verdauen.» Für ihn sei so nämlich klar: «Der mutmassliche Täter wollte mich umbringen, es war keine Strolchentat, kein Unfall.» Zudem werde er nun für immer die Bilder von Lewis E. im Kopf haben, die ihn der französischen Presse kursieren. Perfide: Auf einem Foto einer Überwachungskamera aus den Niederlanden trägt er gar einen Betonklotz auf dem Kopf – unmittelbar bevor er damit auf ein nächstes Opfer losgehen sollte.

Soll mehrfach mit Steinen und Betonklötzen zugeschlagen haben: Levis E.

Soll mehrfach mit Steinen und Betonklötzen zugeschlagen haben: Levis E.

Screenshot Opsporing Verzocht

«Wieso hat er mir das angetan?»

Immerhin sei der wohl Verantwortliche nun weggesperrt, damit löse sich zumindest die imminente Gefahr, noch einmal heimgesucht zu werden, so Marco. Dennoch bleiben die Angst und die Albträume. Auch deshalb bleibt Marco bis heute krankgeschrieben. Eine Betreuung durch einen Psychiater hilft Marco weiterhin in langsamen Schritten zurück in die Spur.

Wie es nun strafrechtlich weitergeht und ob es irgendwann zur Konfrontation mit dem Täter kommt, werden die nächsten Wochen und Monate zeigen. Mindestens bis dahin wird Marco auf einer für ihn so wichtigen Frage sitzen bleiben: «Wieso hat er mir das angetan?»

Zahlreiche Aliasse: Levis E. hätte wohl nicht im Dublin-Raum sein dürfen

Weder das Bundesamt für Migration SEM noch die Berner Polizei geben darüber Auskunft, wie lange sich Levis E. in der Schweiz aufgehalten hatte. Auch wird – ebenfalls mit Verweis auf das Persönlichkeits- und Datenschutzrecht – nicht bestätigt, ob der 27-Jährige in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt hat.

Allerdings fehlt in den Verfahrensakten jeglicher Hinweis auf asyl-administrative Vorgänge rund um Levis E. oder eines seiner vielen Aliasse, unter denen er teils in Frankreich aufgetaucht war. Dies lässt den Schluss zu, dass sich Levis E. ziemlich sicher illegal in der Schweiz aufgehalten haben muss.

Die französische Zeitung «Le Progrès» schreibt: Levis E. wurde Anfang 2024 in Dijon mit einer sogenannten «Obligation de quitter le territoire» (OQTF) des Landes und somit des Dublin-Raums verwiesen. Die Behörden in Frankreich und die Interpol wollen dies auf Anfrage von 20 Minuten nicht bestätigen – der Grund: Datenschutz.

Die Gewaltakte des mutmasslichen Täters Levis E. im vergangenen Jahr.

Die Gewaltakte des mutmasslichen Täters Levis E. im vergangenen Jahr.

20 Minuten Visual

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