Russland: Experte warnt vor neuen Angriffen auf EU-Länder

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Militärexperte warnt«Nach dem Ukraine-Krieg tickt die Uhr für das nächste Opfer»

Der Autor Keir Giles sieht in den Sabotageakten in Westeuropa einen ersten Schritt Russlands, um Angriffe auf weitere Staaten vorzubereiten. Er warnt eindringlich davor, dass Europa die Augen vor der Gefahr verschliesst.

Laut einem Russland-Experten steht es ausser Frage, dass Putins Regime weitere Länder in Europa angreifen wird, wenn die Kampfhandlungen in der Ukraine ein Ende haben. Im Bild besichtigt Wladimir Putin im Jahr 2006 das Hauptquartier des Militärgeheimdienstes GRU.
Sabotageakte, wie sie in letzter Zeit in verschiedensten Teilen Europas registriert wurden, stellen demnach einen ersten Schritt in einer grösseren Strategie dar.
Damit zielt Russland laut dem Autor und Militärexperten Keir Giles auf lange Sicht darauf ab, Militäroffensiven vorzubereiten.
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Laut einem Russland-Experten steht es ausser Frage, dass Putins Regime weitere Länder in Europa angreifen wird, wenn die Kampfhandlungen in der Ukraine ein Ende haben. Im Bild besichtigt Wladimir Putin im Jahr 2006 das Hauptquartier des Militärgeheimdienstes GRU.

AFP

Darum gehts

  • Keir Giles warnt vor der Gefahr weiterer russischer Aggressionen in Europa.

  • Der Experte sieht die Sabotageakte als ersten Schritt in der Kreml-Strategie.

  • Er warnt, dass Moskau mit Angriffen einen Keil zwischen die europäischen Länder treiben könnte.

Die Gefahr eines weiteren russischen Angriffs nach der Invasion in der Ukraine ist laut dem renommierten Russland-Experten Keir Giles keine Frage des Ob, sondern des Wann. In seinem neuen Buch «Who Will Defend Europe?» warnt er eindringlich vor einem «schlafenden Kontinent», der die Risiken russischer Aggressionen massiv unterschätzt.

«Die Sabotageakte, die als hybride Angriffe abgetan werden, sind in Wahrheit nichts anderes als Kriegshandlungen», sagt Giles im Interview mit der belgischen Tageszeitung «Het Laatste Nieuws». Infrastruktursabotagen in Europa seien klare Vorbereitungen auf mögliche militärische Operationen.

Das ist die russische Strategie

Der Experte sieht ein typisches Muster, das Russland anwende, um seine Ziele zu erreichen: Zuerst Sabotage und Desinformation, dann eine Eskalation, die in einer militärischen Offensive gipfeln kann. Die baltischen Staaten könnten als erste Ziele in den Fokus geraten, insbesondere Litauen: Die geografische Nähe zu Belarus biete ideale Bedingungen für eine solche Operation. Als mögliche Ziele handelt Giles auch die zu Norwegen gehörenden Spitzbergen, wo Russland nach einer Invasion etwa Atomwaffen stationieren könnte.

Als besonders gefährlich sieht Giles die Uneinigkeit innerhalb der Nato. Sollte ein Land wie die USA unter einem Präsidenten wie Donald Trump den Bündnispartnern den Rücken kehren, könnte dies die Allianz entscheidend schwächen. «Die europäischen Staaten allein haben schlichtweg keine ausreichenden Kapazitäten, um sich gegen Russland zu verteidigen», erklärt Giles. Polen sei das einzige Land Osteuropas, das nennenswerte militärische Schlagkraft habe – der Rest Europas verfüge über «Bonsai-Armeen».

«Russland baut seine Armee schneller auf, als die Ukraine sie zerstören kann»

Russland-Experte Keir Giles

Zwar bekam der Mythos der unschlagbaren, riesigen russischen Armee in der Ukraine Risse, Giles warnt aber eindringlich davor, die militärischen Kapazitäten Moskaus zu unterschätzen. «Russland baut seine Armee schneller auf, als die Ukraine sie zerstören kann – sobald die Kämpfe dort enden, wird der Kreml bereit sein, das nächste Ziel ins Visier zu nehmen», so der Experte.

Zudem verfügt Russland auch über militärische Mittel, die in der Ukraine bislang gar nicht eingesetzt wurden, aber bei einem weiteren Krieg mit einem europäischen Land eine wichtige Rolle spielen könnten. «Moskau kann auch aus einer Entfernung von 1000 Kilometern Raketen auf EU-Hauptstädte abfeuern. Und ich spreche nicht einmal von Atomraketen, sondern von kleineren konventionellen Präzisionsangriffen, mit denen sie Städte wie Brüssel treffen können», warnt Giles.

Das könnte Russland mit den Angriffen erreichen

Mit solchen Erstschlägen könnte Moskau demnach darauf abzielen, die Bevölkerung europäischer Länder zu demoralisieren, damit sich diese einer Reaktion nach einem Angriff auf einen Nato-Verbündeten nicht anschliessen. «Sie sind dann willens und in der Lage, sowohl Infrastruktur als auch humanitäre Ziele ins Visier zu nehmen, um das Leben unerträglich zu machen.»

In der Ukraine sei dies an der Widerstandsfähigkeit einer Nation, die aus der Not heraus um ihr Überleben kämpft, gescheitert. «Aber stellen Sie sich vor, die Raketen landen in einem schlecht verteidigten westeuropäischen Land? Werden westliche Regierungen ihr Volk dann zum Kampf gegen Russland aufrufen?». Giles kommt zu einer pessimistischen Einschätzung: Viele westeuropäische Staatschefs würden sich eher auf innenpolitische Probleme konzentrieren.

Hinzu komme, dass Russland in den letzten Jahren eine Kriegsmentalität kultiviert habe, die bereits bei Kindern im Schulalter ansetze. «Russische Jugendliche wachsen mit der Überzeugung auf, dass Krieg unvermeidbar und Opfer notwendig sind», berichtet Giles.

«Osteuropa kauft mit Blut Zeit für den Westen»

Giles' Fazit ist düster: «Osteuropa kauft mit dem Blut seiner Soldaten Zeit für den Westen. Doch diese Zeit wird nicht ewig reichen.» Europa müsse erkennen, dass es sich bereits in einem Krieg befinde – auch wenn dieser derzeit nicht mit Panzern, sondern mit Sabotageakten und Raketenangriffen geführt werde. «Je länger wir die Realität leugnen, desto grösser wird die Gefahr für den gesamten Kontinent.»

Keir Giles

Keir Giles ist ein britischer Experte für Russland und internationale Sicherheit. Er arbeitet als Senior Consulting Fellow im Russland- und Eurasien-Programm von Chatham House, einer renommierten Denkfabrik in London, die sich mit internationalen Angelegenheiten beschäftigt. Giles ist bekannt für seine fundierten Analysen zur russischen Aussen- und Sicherheitspolitik sowie zu Cyberkriegsführung und Desinformation. In der Vergangenheit hat er auch für die britischen Streitkräfte gearbeitet.

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