Ann in der Ukraine«Nach dem Krieg werden wir tanzen» – Reportage aus dem verwüsteten Lyman
Die nördlichste Stadt im Oblast Donezk im Osten der Ukraine ist immer wieder schwer umkämpft. Auch jetzt steht Lyman wieder täglich unter Beschuss. Wer kann hier noch leben?
Fahrt durch Lyman, das seit gut sechs Monaten wieder in ukrainischer Hand ist.
20 Minuten/Ann GuenterDarum gehts
Die Kleinstadt Lyman im Norden des Donbass hat ein schlimmes Jahr hinter sich.
Sie ist ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt und deswegen seit Kriegsbeginn schwer umkämpft.
Mit der Intensivierung der Gefechte um Bachmut steht auch Lyman wieder unter Beschuss.
Die Mehrheit der Gebäude der einstigen 20’000-Einwohner-Stadt ist beschädigt oder zerstört.
Ein Besuch der Stadt – und bei Natalya (46), die zum Schutz auf ihr Beil im Schrank setzt.
Aus dem Innern des Hochhauses quellen Betondecken hervor, weit oben gibt es den Blick frei auf ein zerrissenes Wohnzimmer, dessen roter Teppich wie die Zunge eines toten Tiers herunterhängt. Luftangriffe reissen das Leben aus Lyman heraus.

Lyman wurde im Mai 2022 von russischen Truppen besetzt und im Oktober zurückerobert.
20 Minuten/ Ann GuenterIn der Kleinstadt gut 150 Kilometer westlich der russischen Grenze lebten einst etwa 20’000 Menschen. Heute sollen es noch einige Tausend Zivilisten sein, es gibt jetzt mehr Soldaten hier.
Über 75 Prozent der Häuser von Lyman sind beschädigt oder zerstört. Spuren von Granateinschlägen und Schrapnell findet man überall, auch die Bäume tragen Kriegswunden. Die Menschen, längst nicht alle Rentner, sind der perversen Kriegsrealität vollkommen ausgeliefert und müssen zwischen noch halbwegs intakten Wohnungen und Kellern abwechseln.
In der Willkür des Artilleriekrieges verlieren einige von einer Sekunde auf die andere alles, andere kommen wenige Meter entfernt mit dem Schock und zerbrochenen Scheiben davon.

Über 75 Prozent der Häuser in Lyman …
20 Minuten/ Ann Guenter
Zurück vom Holzholen vor Zeichen der russischen Besetzung.
20 Minuten/ Ann GuenterEs gibt in Lyman kein fliessendes Wasser, kaum Strom und Gas. Viele heizen mit Holz aus dem umgebenden lichten Wald und kochen vor den zerstörten Wohnblöcken auf offenem Feuer. Alle müssen in der Märzkälte eisiges Wasser aus Brunnen pumpen.
In der Trostlosigkeit kommen uns zwei Frauen entgegen. Natalya (46) und ihre Freundin aus Kindheitstagen freuen sich kolossal über die Orangen und Bananen, die wir dabeihaben.
Sie laden zum Tee ein, laut versichernd, dass bei Natalya sogar Elektrizität und Heizung funktionierten. «Das Dach hat Löcher, aber ansonsten ist das Wohnhaus intakt», sagt Natalya. Sie wohnt in ihrer Erdgeschosswohnung noch als Einzige in dem Gebäude.

Natalya (46) und ihre Nachbarin und Freundin kennen sich seit Kindheitstagen.
20 Minuten/ Ann GuenterIm warmen Wohnzimmer mit allerhand Bildern und Kunststoffblumen erzählt Natalya, dass sie soeben aus Dnipro zurückgekehrt sei. «Ich wollte weg von den Angriffen», sagt Natalya. «Doch dort kostete ein Schlafplatz und ich habe im Krieg ja auch meine Arbeit bei der Eisenbahnverwaltung verloren.» In der zentralukrainischen Grossstadt habe sie sich ohnehin nicht wohlgefühlt. «Eine Frau sagte mir, dass wir Leute aus dem Donbass am Krieg schuld seien. Da fühlt man sich nicht willkommen.»
Natalya tauschte die Welt in Dnipro mit Cafés, Shops und Supermärkten gegen einen Alltag, der an Stress kaum zu überbieten ist. Dennoch lacht und plaudert die 46-jährige Grossmutter angeregt, später zeigt sie mit viel Liebe in den Augen das Foto ihrer Enkelin, die mit der Mutter in Polen untergekommen ist. Nur in diesem Moment muss Natalya weinen.

«Wir konnten ihr nicht helfen.»
20 Minuten/ Ann GuenterIhre Freundin bringt noch mehr Guetzli – die Ukraine mag es süss, erst recht in bitteren Zeiten. Alle paar Tage bringen Freiwillige die wichtigsten Lebensmittel, doch gesund essen tut hier kaum jemand. Es fehlten frisches Gemüse und Obst, die Leute essen und trinken überhaupt zu wenig, gerade die Senioren.
Das Donnern von Grad-Raketen lenkt das Gespräch auf anderes. Natalya zeigt, was ihr in der Todesangst als Einziges übrig bleibt. Sie führt enge Stufen den Keller hinunter.
Matratze, Wolldecken, Tisch, Kochplatten – auch Natalya muss sich wegen der Luftangriffe in diesem eiskalten Raum unter der Erde einrichten und auf ein Ende der Hölle draussen hoffen. «Es ist ein Inferno, wenn es einschlägt», sagt Natalya. «Eine Nachbarin der Siedlung war im Hof Wasser holen, als ein Angriff kam. Schrapnell traf sie überall, sie verblutete, wir konnten ihr nicht helfen.»
Sie würden bleiben, so lange es ginge, sagt Natalya, und die Freundin nickt entschlossen. Weil sie hier hingehörten, in diese zerstörte Siedlung, wo sich alle kennen und durch den Horror zusammengeschweisst wurden. «Ohnehin habe ich keine Angst vor den russischen Soldaten», sagt Natalya zum Abschied. Sie holt ein Beil aus einem Schrank im Gang, lacht selbstironisch im Wissen um seine Nutzlosigkeit.
Hoffnung gibt der nahende Frühling. Das kleine Gartenstück vor Natalyas Wohnung ist ausgesät. «Ich liebe Blumen», sagt sie. «Nach dem Krieg werden wir hier draussen essen, trinken und tanzen.»

Ukraine, Luhansk Oblast, März 2023.
20 Minuten/ Ann GuenterIn «Sowjetisch Rotes Lyman» umbenannt
Angriffe auf Lyman und den Osten «rund um die Uhr»
Lyman ist die nördlichste Stadt im Oblast Donezk im Osten der Ukraine. Als wichtiger Eisenbahnknotenpunkt war sie immer stark umkämpft: Im Mai 2022 von russischen Truppen besetzt und in «Sowjetisch Rotes Lyman» umbenannt, nahmen ukrainische Soldaten die Stadt letzten Oktober bei heftigen Gefechten wieder ein. Zurück blieben, wie an anderen Orten auch, ein Massengrab und rund 200 weitere Gräber mit Soldaten und Zivilisten.
Jetzt, wo sich die Kämpfe um die nahe Stadt Bachmut intensiviert haben, treffen Lyman wieder täglich Raketen- und Luftangriffe. Am 23. März teilte der Generalstab der ukrainischen Streitkräfte in seinem Lagebericht von sechs Uhr mit, dass die russischen Truppen ihre Angriffsoperationen im Raum Kupjansk, Lyman, Bachmut, Awdijiwka und Schachtarsk weiter ausweiteten. Man wehrte die Angriffe «rund um die Uhr» ab.
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