Verzweifelte Lehrer: «Die heutigen Zeugnisse sind schlicht nicht mehr zeitgemäss»

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Verzweifelte Lehrer«Die heutigen Zeugnisse sind schlicht nicht mehr zeitgemäss»

Für Lehrpersonen wird es zunehmend schwieriger, ihre Schülerinnen und Schüler im Zeugnis zu benoten. Ein Zürcher Lehrer fordert nun mehr Möglichkeiten zur individuellen Bewertung.

«Die Schule und die Gesellschaft haben sich extrem gewandelt – doch das Zeugnis ist in den letzten 20 Jahren in Zürich und in vielen anderen Kantonen in den Grundzügen dasselbe geblieben», sagt Sammy Frey.
Er ist Sekundarstufenlehrer an einer Sonderschule in Zürich und nervt sich über die Benotung in Zeugnissen. «Das Zeugnis bietet aktuell aber kaum Möglichkeiten, die Individualität der Schülerinnen und Schüler auszudrücken», so Frey.
Dennoch wolle er die Zeugnisse nicht ganz abschaffen: «Es braucht eine Form von schriftlicher Beurteilung, aber wie die aussieht, das ist die Frage.»
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«Die Schule und die Gesellschaft haben sich extrem gewandelt – doch das Zeugnis ist in den letzten 20 Jahren in Zürich und in vielen anderen Kantonen in den Grundzügen dasselbe geblieben», sagt Sammy Frey.

20min/Marco Zangger

Darum gehts

  • Der Zürcher Sekundarstufenlehrer Sammy Frey nervt sich in einem Video über die Zeugnisse, in denen er seine Schülerinnen und Schüler benoten sollte.

  • Die Form der Benotung sei schlicht nicht mehr zeitgemäss, sagt er.

  • Auch der Lehrerverband bestätigt, dass kritische Stimmen lauter werden.

Sammy Frey (45), Lehrer an einer Zürcher Sonderschule auf Sekundarstufe, muss dieser Tage Zeugnisse schreiben – und das macht ihn ziemlich fertig, wie er in einem Video auf Youtube erklärt. Das Problem: «Die Schule und die Gesellschaft haben sich extrem gewandelt. Doch das Zeugnis ist in den letzten 20 Jahren in Zürich und in vielen anderen Kantonen in den Grundzügen dasselbe geblieben.»

In der Schule gebe man sich heute viel Mühe, den Möglichkeiten der Kinder im Unterricht individuell gerecht zu werden: «Mit dem Lehrplan21, kompetenzenorientiertem Unterrichten oder der Integration von Sonderschülern in reguläre Klassen wird Individualität grossgeschrieben. Das Zeugnis bietet aktuell aber kaum Möglichkeiten, das auszudrücken. Für viele Lehrpersonen reicht diese Form des Zeugnisses nicht mehr – und trotzdem kann es entscheidend sein für die künftige Laufbahn der Schülerinnen und Schüler.»

«Schlicht nicht mehr zeitgemäss»

Frey betont, er sei nicht für die Abschaffung von Zeugnissen. «Es braucht eine Form von schriftlicher Beurteilung, aber wie die aussieht, das ist die Frage.» Als Lehrer habe er heute nur die Möglichkeit, Noten von 1 bis 6 für die schulischen Leistungen und «sehr gut, gut, genügend und ungenügend» für Arbeits-, Lern- oder Sozialkompetenzen zu vergeben. «Das ist schlicht nicht mehr zeitgemäss», nervt sich Frey. «Man kann nicht ständig Individualisierung fordern und diese dann im Zeugnis kaum abbilden.»

«Wenn jemand immer in Trainerhosen in die Schule kommt, wird das von einer Lehrperson vielleicht als Nicht-Akzeptieren der schulischen Regeln beurteilt, es gibt ein Ungenügend im Sozialverhalten. Dann finden wir heraus, dass das Kind aus schwierigen Verhältnissen kommt und keine saubere Jeans hat. Wie sollen wir das in ein so begrenztes Beurteilungsschema einfliessen lassen? Oder hat ein Kind, das sich ständig meldet, aber immer völlig am Thema vorbei antwortet, sich aktiv am Unterricht beteiligt?» Frey nennt im Video weitere Beispiele.

«Kritik an heutigen Zeugnissen wird immer lauter»

Auch der Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer (LCH) bestätigt, dass das Thema bereits seit Jahrzehnten Schweizer Lehrpersonen beschäftigt. «Zu diesem Thema scheiden sich die Geister», sagt Präsidentin Dagmar Rösler. Es gebe jene, die sagen, dass Noten ein unkompliziertes Instrument seien, um auf einfache Weise eine Leistung zu bewerten. «Die Stimmen, die eine Überarbeitung des jetzigen Beurteilungssystems fordern, werden aber immer lauter», so Rösler.

Nicht nur in Hochschulen, Universitäten oder in der Arbeitswelt wird immer mehr individualisiert, sondern auch in der Volksschule. «Man geht vermehrt auf Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler ein – am Schluss müssen aber alle auf die gleiche Art und Weise bewertet werden», sagt Rösler. Viele Kantone seien nun daran, ihr Beurteilungssystem zu modernisieren.

Zürich hat Notenpflicht gesetzlich verankert

Im Kanton Zürich wurde vergangenen Sommer die Notenpflicht gesetzlich verankert – die bürgerlichen und Mitteparteien wollten damit verhindern, dass Schulnoten durch alternative Bewertungsmethoden ersetzt werden. Somit fällt die Option eines Zeugnisses ohne Noten weg, der Bildungsrat sagte jedoch klar, dass das Beurteilungssystem in absehbarer Zeit überarbeitet und an den Lehrplan21 angepasst werden muss.

Eine Patentlösung hat auch Frey nicht. «Aber ich frage mich echt, wieso nichts passiert. Hat noch niemand gecheckt, was sich in den letzten 20 Jahren verändert hat? Es braucht dringend einen politischen Diskurs und ein Umdenken bei den Verantwortlichen.»

«Keiner der Anpassungsvorschläge fand eine klare Mehrheit»

Muss das schulische Beurteilungssystem  überarbeitet werden?

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