Arzneimittel-Engpass: Ohne Antibiotika drohen in Europa viele Tote

Aktualisiert

Medikamenten-Krise«Ohne Antibiotika sterben in Europa innert kurzer Zeit Hunderttausende»

Die Medikamenten-Krise spitzt sich zu. Dem will eine breite Allianz mit einer Volksinitiative entgegenwirken. Gesundheitsberater Andreas Faller erklärt, wieso es die Initiative braucht.

Gesundheitsexperte Andreas Faller warnt eindringlich vor der Abhängigkeit von China und Indien im Medikamentensektor. 
Auch die wirtschaftliche Landesversorgung stuft die Arzneimittelversorgung in der Schweiz als «problematisch» ein.
Betroffen sind auch Apotheken, Arztpraxen oder die Behandlung zu Hause. 
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Gesundheitsexperte Andreas Faller warnt eindringlich vor der Abhängigkeit von China und Indien im Medikamentensektor. 

20min/Federico Zanini

Darum gehts

  • Der Schweiz fehlen immer mehr Medikamente. Mittlerweile sind laut Gesundheitsberater Andreas Faller auch lebenswichtige Medikamente betroffen, ein Ersatz ist nicht immer möglich. 

  • Die Gründe sind bekannt, Lösungen liegen trotzdem nicht auf der Hand. 

  • Kurzfristig werden Apotheken ermächtigt, gewisse Medikamente selber herzustellen, und es wird nach Alternativen gesucht. 

  • Doch Faller ist überzeugt: Das Problem muss langfristig angegangen werden. Das will eine Allianz nun mit einer Volksinitiative angehen. 

795 Medikamente waren Stand Mittwochmittag in der Schweiz nicht lieferbar. Betroffen waren 363 Wirkstoffe, die Zahlen steigen seit Jahren an. Am Dienstag schlug das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung Alarm. Die Versorgungslage wurde als problematisch eingestuft und eine Taskforce gegründet. Andreas Faller, Jurist, Gesundheitsberater und ehemaliger BAG-Vize, erklärt im Interview, wie ernst die Situation ist.

Wieso stuft der Bund die Lage jetzt als problematisch ein?

Weil seit Jahren immer mehr Medikamente nicht lieferbar sind. Und: Am Anfang waren es vor allem Medikamente, die man gut ersetzen konnte. Mittlerweile fehlen aber auch lebenswichtige Medikamente, zum Beispiel aus der Kindermedizin, Blutdrucksenker und onkologische Medikamente, für die es teils keinen Ersatz gibt. Die Situation ist also tatsächlich sehr ernst.

Wieso werden diese Medis nicht geliefert?

Es gibt Probleme bei den Lieferketten. Viele Medikamente und Grundstoffe werden in China und Indien hergestellt. Oft bestellen mehrere Firmen bei denselben Lohnherstellern in diesen Ländern. Fällt dann eine Produktion in Indien oder China aus, sind davon auf einen Schlag mehrere Medikamente betroffen.

Als kurzfristige Reaktion wurde eine Taskforce gebildet. Was kann sie tun?

Kurzfristig muss versucht werden, einzelne Lieferengpässe oder Störungen zu entschärfen, etwa, indem auf Pflichtlager zurückgegriffen wird oder Alternativen im Einkauf gefunden werden. Das Bundesamt für Gesundheit erlaubt es Apotheken etwa auch, gewisse Arzneimittel unter klaren Bedingungen und Qualitätskontrollen selber herzustellen und von den Krankenkassen vergüten zu lassen. Mittel- und langfristig ist das aber nicht die Lösung.

Sondern?

Neben einer interdisziplinären Arbeitsgruppe des Bundes, der ich angehöre und die seit letztem
Sommer an Lösungen arbeitet, beginnt eine breite Allianz voraussichtlich im März dieses Jahres damit, Unterschriften für die Volksinitiative «Ja zur medizinischen Versorgungssicherheit» zu sammeln. Sie verfolgt drei Ziele. Erstens soll die medizinische Versorgungssicherheit Bundesaufgabe werden. Derzeit sind die Kantone verantwortlich. Zweitens muss der Standort Schweiz gestärkt werden. Forschung, Entwicklung und Produktion sind in den letzten Jahren bedenklich geschwächt worden. Und drittens braucht es sichere Versorgungswege aus dem Ausland.

Was heisst das?

Wir müssen die dramatische Abhängigkeit von Indien und China verringern. Eine deutsche Pharmazie-Professorin sagte kürzlich: «Die Chinesen brauchen gar keine Atombombe. Es reicht, wenn sie keine Antibiotika mehr liefern.» Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass in Europa innerhalb weniger Wochen Hunderttausende Menschen an heutzutage relativ harmlosen Krankheiten sterben würden, wenn wir von heute auf morgen keine Antibiotika mehr hätten.

Wer wären zuverlässige Partner?

Es gibt Länder in Europa, in denen sehr zuverlässig produziert wird. Dort muss die Produktion gestärkt werden und die Schweiz muss von dort her sichere Lieferwege schaffen. Es muss eine saubere Analyse gemacht und überlegt werden, was in der Schweiz gemacht werden soll, wo wir mit zuverlässigen Partnern in Europa zusammenarbeiten können und wo es problemlos ist, weiterhin auf die Produktion in Billiglohnländern zu setzen. Es geht übrigens auch nicht nur um Medikamente.

Sondern?

Um Medizinal- und Laborprodukte zum Beispiel. Zu Beginn der Covid-Pandemie brachen die Testbemühungen phasenweise ein, weil aus Italien keine Entnahmekits mehr geliefert wurden. Auch hier bestehen Abhängigkeiten, die analysiert werden müssen.

Hand aufs Herz: Ist es nicht einfach eine Initiative der Pharmabranche, die bessere Preise herausschlagen will?

Nein. Die Pharmabranche ist im Boot, klar. Aber auch Ärzte- und Apothekerverbände, der Drogistenverband, Grossisten, der Labormedizinverband, das Konsumentenforum und Wissenschaftler. Aber ich sage offen, dass ich die Praxis hinterfrage, einfach ständig die Medikamentenpreise drücken zu wollen, auch bei günstigen, aber wichtigen Grundversorgungsmedikamenten, was eben die Produktion in weniger sichere Billigländer
verschiebt. Wir sehen jetzt, dass diese Politik einen Preis hat: Sie geht zulasten der Versorgungssicherheit.

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