20 Minuten in DamaskusSäurefass und Leichenpresse – ein Besuch in Assads Foltergefängnis
Das Assad-Regime ist seit einer Woche Vergangenheit. Doch der Horror hat sich in die dicken Mauern des berüchtigten Sednaja-Gefängnisses eingefressen.
Im Foltergefängnis Sednaja in Syrien wurden Tausende getötet. Nach dem Sturz Assads suchen Familien vor Ort nach Spuren ihrer Geliebten.
20 MinutenDarum gehts
Der syrische Machthaber Baschar al-Assad ist Geschichte.
Seither stehen die Tore des berüchtigten Sednaja-Gefängnisses offen. Damit sind Tausende, oft willkürlich Inhaftierte, freigekommen.
Doch Hunderte Syrer und Syrerinnen aus dem ganzen Land suchen weiter nach ihren Angehörigen.
20 Minuten hat das Gefängnis besucht, in dem seit den späten 80ern Unsägliches passiert ist.
Sie blickt sie schon von weitem unverwandt an. Wortlos steuert sie direkt auf die Reporterin zu. Die beiden kennen sich nicht, sprechen nicht einmal die gleiche Sprache. Dennoch umarmt die Frau die Journalistin wie eine Schwester, die sie lange nicht gesehen hat, und weint. Umstehende werden auf das ungleiche Paar aufmerksam: Die Journalistin aus dem Westen und die Frau ganz in Schwarz gekleidet im Vorhof dieses Horts des Horrors und der Unmenschlichkeit.
Ihr Sohn und ihr Ehemann wurden hier gehängt, erzählen die Umstehenden, und jetzt, wo das Assad-Regime gestürzt ist, komme sie seit Tagen zum Sednaja-Gefängnis, um irgendwie bei ihnen zu sein. Doch den Trost, den sie sucht, kann ihr wohl niemand geben.

Sie will ihrem getöteten Mann und Sohn nahe sein – und verbringt deshalb Zeit in Sednaja.
20 MinutenMassenhinrichtungen als «Party»
Das Sednaja-Gefängnis ist ein riesiger Komplex aus beigem Stein. Gut 40 Minuten nördlich von Damaskus gelegen, sieht er von weitem eigentlich harmlos aus. Doch hier fanden Dinge statt, die einen zweifeln lassen, ob es das Gute überhaupt gibt. Denn auch wenn man nicht an Geister glaubt – aus Hunderten vergitterten Fensterlöchern scheinen die geschundenen Seelen von Zehntausenden zu schreien.
Die Weisshelme, eine freiwillige Zivilschutzorganisation in Syrien, trugen nach eigenen Angaben dazu bei, dass 20'000 bis 25'000 Menschen aus Sednaja befreit werden konnten. Das Schicksal von Tausenden weiteren Gefangenen aber bleibe ungewiss. Bis vor wenigen Tagen holten die Wärter von Sednaja mindestens jede Woche wahllos zusammengestellte Gruppen von bis zu 50 Personen aus ihren Zellen. Sie teilten ihnen mit, dass sie in ein anderes Gefängnis kämen. Man brachte sie in schmale Käfige mit dicken Eisenstangen, die sich in den zahlreichen riesigen Hallen den Wänden entlang reihen. Hier warteten die Häftlinge auf ihre «Verlegung». Aber in der Nacht wurden sie gehängt. Die Wärter nannten diese Massenhinrichtungen offenbar «die Party».
Eckdaten zu Sednaja
Gebaut 1987 war der Komplex zunächst ein Militärgefängnis für politische Gefangene. «Amnesty International» bezeichnet Sednaja als «menschliches Schlachthaus». Hunderte Wachen und Soldaten beaufsichtigten das riesige Gebäude mit mehreren Flügeln. Ein Ring von Minen umgibt das Gefängnis. 2007 waren schätzungsweise 1500 Menschen inhaftiert, doch nach Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011/12 stieg die Zahl der Insassen laut Amnesty International auf bis zu 20’000 an.
30’000 Tote
Insgesamt über 30’000 Menschen sollen in Sednaja getötet worden sein. Andere wurden gefoltert, geschlagen und in Scheinprozessen erniedrigt. In den unzähligen Zellen, kleiner als zehn Quadratmeter, vegetierten drei, vier Häftlinge über Jahre dahin – es gab kaum Essen, Wasser oder eine sanitäre Grundversorgung. Womöglich war der Tod so für viele erlösend.

Islamistische Kämpfer schauen beim Gefängnis nach dem Rechten. Ihre Frauen haben sie vor Ort begleitet.
20 MinutenHeute durchstreifen Männer in arabischen Turbanen und bunten Häkelmützen die dunklen, feuchten Gänge, und Frauen in Kopftüchern pressen sich Taschentücher vor den Mund gegen den ekelhaften Geruch, der die Gewölbe durchdringt. Bärtige Kämpfer mit uralten Maschinengewehren markieren Präsenz.
Wer wurde in Sednaja eingesperrt?
Vor Beginn des Bürgerkriegs waren die meisten Insassen Islamisten. Sie waren von der syrischen Regierung ermutigt worden, sich der Nusra-Front anzuschliessen, einem Al-Qaida-Ableger, der im Irak gegen die amerikanischen Besatzer kämpfte.
Nach ihrer Rückkehr nach Syrien wurden sie ins Gefängnis geworfen, weil sie Assads Herrschaft gefährden könnten. Ab 2011 liess die Regierung viele der Dschihadisten wieder frei. Ins Visier kamen nun Demonstranten und Aktivisten, Journalisten, Ärzte, NGO-Mitarbeiter und Studenten. Sednaja war oft der letzte Ort, an dem sie nach langen Aufenthalten in anderen Gefängnissen gebracht wurden.
Hoffnungen und Gerüchte
Überall hängen Ausdrucke mit Fotos der Vermissten und Telefonnummern. Matratzen und Sofas aus den Büros der Wächter wurden nach draussen geschafft für jene, die von weit her kommend die Nacht hier verbringen.
«Es gibt geheime Zellen unter der Erde, wir müssen danach graben, schafft Bagger heran, helft uns!» – unzählige Male ist diese Bitte zu hören. Frisch geschlagene Löcher klaffen überall in den Gängen und Wänden, weil darunter und dahinter weitere Räume mit Gefangenen vermutet wurden. Die Gerüchte halten sich auch nach einer Woche noch standhaft.

Angehörige haben Ausdrucke von Vermissten aufgehängt.
20 MinutenSäurefass und Leichenpresse
Vor einem Raum hat sich eine Menschenschlange gebildet. Sie alle wollen die Druckpresse sehen, mit der offenbar Leichen zerquetscht wurden, um sie einfacher verbrennen zu können. Doch die Presse ist sauber, einige Spinnweben hängen an ihr. Sie scheint schon länger nicht mehr in Betrieb gewesen zu sein.

Die Druckpresse sehen, mit der Leichen zerquetscht wurden.
20 MinutenGleichzeitig wabert einem von einem Nebenraum ein grauenhafter Gestank entgegen: Fäulnis, Fäkalien, süsser Blutgeruch. Ein Sanitäter des «Roten Halbmondes» öffnet eine weitere Türe, dahinter steht ein gut zwei Meter hohes, blaues Fass. «Es ist mit Säure gefüllt, darin wurden Leichen aufgelöst», sagt er. «Wir waten hier nicht in Wasser, sondern in zersetzten Körpern.» Unabhängig lässt sich das nicht bestätigen, glaubhaft ist es allemal.
Letztes Wochenende konnten die Häftlinge den Zellen in Sednaja entfliehen: Etwa 2000 seien letzten Sonntag entlassen worden, so die Freiwilligenorganisation der Weisshelme. Unterirdische Geheimzellen mit Gefangenen seien keine gefunden worden. Es ist unklar, was mit den übrigen 11’000 Einsassen geschehen ist.
Behind-the-Scenes
Überraschend stürzte vergangenes Wochenende das Regime von Baschar al-Assad. Damit war klar, dass 20 Minuten nach Damaskus reisen musste, um über diesen historischen Moment vor Ort zu berichten. Auslandsreporterin Ann Guenter flog über Athen nach Beirut und mit dem Taxi zum Grenzübergang Masnaa. Dort wartete ein syrischer Fahrer, der sie in weniger als einer Stunde nach Damaskus fuhr. Heruntergerissene Assad-Plakate säumen die Strasse, die in die syrische Hauptstadt führen, überall sind auch stehengelassene Polizeifahrzeuge und Panzer der Armee zu sehen, auf denen nun Kinder herumturnen.
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