Putins Kriegspläne«Letzter Sommer in Frieden»? So träfe der Krieg die Schweiz
Laut Militärhistoriker Sönke Neitzel erlebt Europa womöglich den letzten Sommer in Frieden, Geheimdienste warnen vor Putins Vorbereitungen auf den grossen Krieg. Schon im September könnte Russland die Nato testen.
Darum gehts
Geheimdienste warnen davor, dass Putin sich auf einen Krieg mit Europa vorbereitet.
Der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel mahnt, dass schon dieser Sommer der letzte sein könnte, den Europa in Frieden erlebt.
Wie wahrscheinlich ist ein Angriff Russlands auf ein Nato-Land? Und welche Auswirkungen hätte er?
Marcel Berni von der Militärakademie der ETH und Russland- und Osteuropaforscher Alexander Dubowy sind sich einig: Ein Angriff noch dieses Jahr scheint unwahrscheinlich, doch die Zeichen stehen auf Krieg.
«Vielleicht ist dieser Sommer der letzte Sommer, den wir noch im Frieden erleben»: Das sagte der deutsche Militärhistoriker Sönke Neitzel kürzlich in der «Phoenix Runde» des ZDF. Gleichzeitig betonte Neitzel, dass er nichts hält von den Drittweltkriegsszenarien, die einige immer wieder zeichnen.
Doch er führte konkret aus, dass Moskau im September eine grosse russische Militärübung in Weissrussland zum Anlass nehmen könnte, die Nato-Grenzen zu verletzen. Kürzlich warnte auch der deutsche Bundesnachrichtendienst davor, dass Putin sich auf einen grossen Krieg mit Europa vorbereite.
Könnte das der letzte Sommer sein, den wir im Frieden erleben? Wie gross ist die Gefahr eines russischen Angriffs auf ein Nato-Land schon im Herbst? Und welche Folgen hätte das für die Schweiz? Dazu Osteuropa- und Russland-Forscher Alexander Dubowy und Historiker Marcel Berni, Leiter der Dozentur Strategische Studien der Militärakademie an der ETH Zürich.
Greift Russland wirklich bald ein Nato-Land an?
Marcel Berni: «Ich halte diese Gefahr für realistisch, bezweifle aber, dass das bereits im September 2025 eintreten wird. Dagegen spricht, dass die Russen derzeit in der Ukraine absorbiert sind. Angesichts dieses Abnutzungskrieges spricht vieles dafür, keine zweite Front gegen die Nato zu eröffnen.»

Derzeit sind die russischen Truppen noch in der Ukraine gebunden. Im Bild ein ukrainischer Soldat der 24. mechanisierten Brigade am 29. März.
AFPAlexander Dubowy: «Die Militärübung in Belarus wird von westlichen Sicherheitsexperten zu Recht mit grosser Aufmerksamkeit verfolgt, da sie in einem geopolitisch hochsensiblen Umfeld stattfindet. Ein direkter militärischer Angriff auf ein Nato-Mitglied gilt zwar nach aktuellem Stand als eher unwahrscheinlich, doch das schliesst ernstzunehmende Risiken keineswegs aus. Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ist mit gezielten Provokationen zu rechnen – etwa durch koordinierte Desinformationskampagnen, Cyberangriffe oder kontrollierte Luftraumverletzungen. So sollen die Reaktionsfähigkeit der Nato und der EU ausgetestet und politische und gesellschaftliche Unsicherheit verstärkt werden.»
Also ist eine Ausweitung des Kriegs bis Ende Jahr unwahrscheinlich?
Berni: «Es stellt sich die Frage, was wir unter Krieg verstehen. Sind die russischen Cyberangriffe und Beeinflussungsoperationen nicht bereits Teil eines Krieges Moskaus gegen den Westen? Aufatmen können wir jedenfalls nicht. Auch wenn ein klassischer militärischer Angriff derzeit schwer vorstellbar erscheint, schafft Putin die Strukturen und Potenziale, um auch nach dem Angriff auf die Ukraine weiter Krieg führen zu können. Ein derzeit schwaches Europa könnte Moskau dazu verleiten, eher früher als später zuzuschlagen.»
«Putin schafft die Strukturen und Potenziale, um auch nach dem Angriff auf die Ukraine weiter Krieg führen zu können.»

Putin bereitet sich laut Experten derzeit darauf vor, auch nach einem allfälligen Ende des Kriegs in der Ukraine weiter Krieg führen zu können. Im Bild: Russlands Präsident Wladimir Putin nahm am 27. März 2025 per Videoschalte an einer Zeremonie in Murmansk teil, bei der das Atom-U-Boot «Perm» der Jasen-M-Klasse mit Hyperschallraketen des Typs Zirkon zu Wasser gelassen wurde, um die strategische Schlagkraft der russischen Marine zu erhöhen.
AFPDubowy: «Sönke Neitzels jüngste Warnung ist bewusst pointiert formuliert – nicht, um Panik zu schüren, sondern um ein historisches Bewusstsein für die Fragilität von Sicherheit zu fördern. Militärische Eskalationen beginnen selten abrupt, sondern entwickeln sich oft schrittweise aus einer Reihe scheinbar isolierter, schwer deutbarer Ereignisse. In diesem Kontext ist seine Aufforderung, den Frieden nicht als selbstverständlich zu betrachten, gut nachvollziehbar. Nach aktuellem Stand erscheint eine Ausweitung des Kriegs im Jahr 2025 als eher unwahrscheinlich. Das kann sich aber schnell ändern.»
Angenommen, es kommt zum Angriff im Baltikum: Welche Folgen könnte das haben?
Berni: «Er würde testen, ob die Beistandsverpflichtungen im Rahmen von Nato und EU greifen. Mit anderen Worten: Russland würde die westliche Welt herausfordern, ob sie bereit ist, für ein verhältnismässig kleines Land im Baltikum den grossen Krieg zu wagen. Das wäre der Lackmustest für die Verlässlichkeit der westlichen Glaubwürdigkeit.

Ein Angriff Putins auf die Nato wäre laut Berni «der Lackmustest für die Verlässlichkeit der westlichen Glaubwürdigkeit». Im Bild: NATO-Generalsekretär Mark Rutte hielt am 26. März 2025 an der Warschauer Wirtschaftshochschule (SGH) eine Rede, in der er die Bedeutung der transatlantischen Einheit betonte, Russland vor Angriffen auf Polen oder andere NATO-Mitglieder warnte und eine «verheerende» Reaktion der Allianz im Falle eines solchen Angriffs ankündigte.
AFPDubowy: «Das bedeutete einen fundamentalen Bruch in der europäischen Sicherheitsarchitektur. Estland, Lettland und Litauen sind sowohl Nato- als auch EU-Mitglieder – ein Angriff auf sie würde daher nicht nur den Nato-Bündnisfall nach Artikel 5, sondern auch den EU-Beistandsmechanismus auslösen. Das hätte sowohl militärische als auch nichtmilitärische Unterstützungsmassnahmen zur Folge. Sollte eine entschlossene und rasche Reaktion jedoch ausbleiben, stünde die Glaubwürdigkeit der westlichen Bündnissysteme ernsthaft infrage. In der Folge drohte eine grossflächige Eskalation entlang der gesamten Nord- und Ostflanke Europas. Parallel dazu wäre mit gezielten russischen Operationen im Cyber- und Informationsraum zu rechnen – darunter Angriffe auf Kommunikationsinfrastrukturen, Energieversorgung und logistische Knotenpunkte, mit dem Ziel, die Handlungsfähigkeit westlicher Staaten nachhaltig zu stören.»
Alexander Dubowy

Alexander Dubowy ist Politikanalyst und forscht zu Osteuropa, Russland und der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten.
privatAlexander Dubowy ist Experte für internationale Politik- und Sicherheitsfragen mit Schwerpunkt auf Osteuropa, Russland und den GUS-Raum. Er verfügt über mehr als zehn Jahre Erfahrung in Forschung, Beratung und Policy-Analyse. Der promovierte Jurist studierte in Wien und Moskau und war an renommierten Universitäten und Institutionen wie der Universität Wien, MGIMO und der Landesverteidigungsakademie Wien tätig. Geboren in Semipalatinsk (heute Semei, Kasachstan), wuchs er in Estland und Österreich auf. Dubowy ist international vernetzt und arbeitet mit führenden Think Tanks und Forschungsinstitutionen zusammen.
Könnte der von Russland in der Ukraine losgetretene Krieg auch die Schweiz erreichen?
Berni: «Das hängt vom Ausgang des Krieges in der Ukraine ab. Und vergessen wir nicht, dass bereits im Rahmen der Ukraine-Friedenskonferenz auf dem Bürgenstock und des Besuchs von Selenski Schweizer Webseiten letztes Jahr angegriffen wurden.»
Dubowy: «Auch die geografisch entfernte und neutrale Schweiz könnte sich der Dynamik eines grossflächigen europäischen Krieges kaum entziehen. Zwar ist die Schweiz weder Nato- noch EU-Mitglied, doch ihre enge wirtschaftliche, finanzielle und infrastrukturelle Verflechtung mit dem Westen macht sie zu einem potenziellen Ziel russischer Cyberangriffe und hybrider Operationen. In einem eskalierenden Szenario wären zudem erhebliche Störungen globaler Lieferketten zu erwarten, Energiepreise stiegen weiter, und eine neue Migrationswelle aus den Krisenregionen wäre wahrscheinlich. Gleichzeitig nähme der innen- und aussenpolitische Druck zu, ihre Neutralität neu zu definieren – etwa durch die Beteiligung an Sanktionen, die Bereitstellung logistischer Unterstützung oder die Duldung von Militärtransporten und Waffenlieferungen über ihr Territorium.»
Zur Person: Marcel Berni

Marcel Berni von der Militärakademie der ETH.
VBS/DDPSMarcel Berni ist Leiter der Dozentur für Strategische Studien an der Militärakademie der ETH Zürich und promovierte 2019 an der Universität Hamburg mit einer preisgekrönten Arbeit über kommunistische Kriegsgefangene im Vietnamkrieg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen aktuelle Kriege, Konflikte und Krisen aus strategischer Perspektive, insbesondere Militärdoktrin, irreguläre Kriegführung und Kriegsgefangenschaft. Berni ist Autor zahlreicher Publikationen, darunter Bücher und Artikel zu militärhistorischen und sicherheitspolitischen Themen. Er verfolgt den Krieg in der Ukraine intensiv und äussert sich regelmässig in den Medien zur militärischen Lage.
Was würde ein grosser Krieg in Europa für die Bevölkerung bedeuten?
Berni: «Das hängt vom Verlauf des Krieges ab. Zerstörung, Leid, Flüchtlinge, Tote, wirtschaftliche Not und Angriffe im Cyber- und elektromagnetischen Raum sind vorstellbar.»
«Grenzschliessungen, Mobilmachung und erste Ansätze zur Rationierung könnten im Kriegsfall Realität werden.»
Dubowy: «Bereits in den ersten Tagen wäre mit massiven Einschränkungen des zivilen Lebens zu rechnen: Grenzschliessungen, Mobilmachungen und erste Ansätze zur Rationierung könnten Realität werden. Die akute Bedrohung durch Raketenangriffe, Sabotageakte oder die blosse Möglichkeit einer nuklearen Eskalation führten zu einer erheblichen psychischen Belastung. Auch wirtschaftlich wären die Folgen gravierend: Finanzmärkte würden einbrechen, Unternehmen ihre Produktion unterbrechen oder ins Ausland verlagern, die Arbeitslosigkeit nähme sprunghaft zu. In einem länger andauernden Konflikt würde das zivile Leben zunehmend militarisiert – mit Notstandsgesetzen, Einschränkungen grundlegender Freiheitsrechte, intensiverer staatlicher Überwachung und einer sukzessiven Umstellung auf eine Kriegswirtschaft. Die gesamte gesellschaftliche Ordnung stünde unter Druck – mit langfristigen Folgen für politische Stabilität, sozialen Zusammenhalt und demokratische Strukturen.»
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