«Diese Videos werden viele wachrütteln»

Publiziert

Rassistische Parolen«Diese Videos werden viele wachrütteln»

Die Hemmschwelle fällt: Nach dem Rassismus-Eklat auf Sylt werden immer mehr Vorfälle in Deutschland aufgedeckt. Dazu Extremismus-Experte Dirk Baier.

Stein des Anstosses: Im Video, das an Pfingsten aufgenommen worden sein soll, grölen deutsche Urlauber auf Sylt ausländerfeindliche Parolen zu Gigi D'Agostinos Welthit «L'amour toujours».

Darum gehts

  • In Deutschland nehmen die Fälle offener rassistischer Äusserungen zu.

  • Das zeigen aktuelle Videos aus Sylt, einer Elite-Uni in Schleswig-Holstein und einem Club am Ballermann.

  • Extremismus-Experte Dirk Baier im Interview.

Nach dem Eklat auf Sylt tauchen weitere Videos auf, in denen offener Rassismus zelebriert wird. So kursiert ein Video eines Clubs am Ballermann, welches schon im April entstanden sein soll. Am Montag wurde ein weiterer Fall an einem Elite-Internat in Schleswig-Holstein bekannt, an welchem die Studierenden Nazi-Parolen gegrölt haben sollen. Was geschieht gerade in Deutschland? Im Interview dazu Extremismus-Experte Dirk Baier.

Dirk Baier von der ZHAW ist Experte für Radikalisierung und Kriminalprävention.

Dirk Baier von der ZHAW ist Experte für Radikalisierung und Kriminalprävention.

ZAHW

Deutschland kommt nicht zur Ruhe: Was geschieht gerade in unserem Nachbarland?
In Deutschland steht viel auf dem Spiel: Die demokratische Grundordnung, die hier in den letzten 75 Jahren gewachsen ist und als etwas betrachtet wurde, das in der Gesellschaft fest verankert ist, wird von verschiedenen Seiten angegriffen. Das ist von links der Fall, wo sich der Antisemitismus breit gemacht hat; das ist von rechts der Fall, wo die AfD offen die Demokratie überwinden will; und auch die Islamisten ziehen durch die Strassen und fordern das Kalifat. In den letzten Jahren sind verschiedene Bewegungen entstanden, die demokratiefeindlich sind. Das macht vielen Menschen Angst.

Ballermann, Sylt und Elite-Unis: Verbreitet sich der Rassismus in allen Gesellschaftsschichten?
Man hört zwar derzeit Einschätzungen, dass insbesondere Mittel- und Oberschichten zu Rechtsextremismus tendieren würden – dies ist aber empirisch gesehen falsch. Höhere Sozial- und Bildungsschichten sind seltener ausländerfeindlich und rassistisch eingestellt. Das hat damit zu tun, dass Bedrohungsgefühle weniger und humanistische Werthaltungen stärker in diesen Milieus verbreitet sind. Dennoch heisst das nicht, dass die Menschen in diesen Milieus völlig davor geschützt wären, solche Haltungen auszubilden, es ist nur seltener der Fall. Wer in den falschen Freundeskreisen verkehrt, wer sich über die falschen Social-Media-Accounts informiert, kann natürlich ebenfalls ins rechtsextreme Denken abgleiten.

«Ich würde sogar die These vertreten, dass diese Videos letztlich zur Eindämmung des Problems beitragen.»

Entsteht nun ein «Flächenbrand» von öffentlichen rassistischen Äusserungen?
Nein, davon gehe ich nicht aus. Die derzeitigen Videos dokumentieren Einzelfälle; und auch wenn davon auszugehen ist, dass es noch mehr solche Anlässe gegeben haben mag, heisst das nicht, dass Ausländerfeindlichkeit ein grassierendes Problem ist. Es ist zweifellos vorhanden und auch zu weit verbreitet. Es betrifft aber nur einen Teil der Gesellschaft. Ich würde sogar die These vertreten, dass diese Videos letztlich zur Eindämmung des Problems beitragen, weil die öffentliche Empörung gross ist, weil jetzt wieder die Grenze deutlich gemacht wird, die nicht überschritten werden darf. Für viele Menschen ist das ein Wachrütteln – das hoffe ich zumindest.

In der Bamboleo-Bar auf Mallorca kam es ebenfalls zu offenem Rassismus.

Instagram/kaischoene

Aber werden sich nicht manche von den Videos ermutigt fühlen, ebenfalls ihr rassistisches Gedankengut öffentlich zu äussern?
Das denke ich nicht. Es ist aber zweifellos möglich, dass da, wo Gruppen zusammenkommen und wo einzelne fremdenfeindlich eingestellte Personen anwesend sind, durchaus unter Einfluss von Alkohol und Musik weitere solch geschmacklose Ereignisse vorkommen werden. Ich denke auch, dass bei manchen solchen Zusammenkünften ganz bewusst das Lied gespielt wird, in dem Sinn: Wir lassen uns doch nicht verbieten, was wir hören und was wir dazu singen. Das erinnert mich an die Situation vor zwei Jahren, als der Ballermann-Song «Layla» aufgrund des frauenfeindlichen Textes boykottiert werden sollte, dann aber noch häufiger zu hören war.

«In der Schweiz ist Rechtsextremismus im Verdeckten aktiv.»

Das Lied, das als Melodie benutzt wurde, wird nun fürs Oktoberfest verboten. Ist das eine geeignete Massnahme, um Rassismus entgegenzuwirken?
Man muss den Rechtsextremismus auf zwei Ebenen bekämpfen: Einmal braucht es die Strafverfolgung, das heisst, Personen, die Verbotenes tun, müssen die Konsequenzen dafür tragen. Zweitens braucht es auch symbolische Aktionen. Das Verbot des Liedes ist ein solches Symbol, von daher ist es richtig. Natürlich kann man das Lied nicht für dieserart Missbrauch durch Rechtsextreme verantwortlich machen; und natürlich ist aufgrund des Verbots noch nichts gegen die Fremdenfeindlichkeit in den Köpfen unternommen worden. Man verhindert aber in jedem Fall, dass sich solch ekelhafte Szenen wie auf Sylt wiederholen.

Haben solche Videos auch Auswirkungen auf die Schweiz?
Viele Schweizerinnen und Schweizer schauen verwundert nach Deutschland, wie offen ausländerfeindlich sich die Menschen hier verhalten. In der Schweiz hingegen ist Rechtsextremismus im Verdeckten aktiv. Ich gehe nicht davon aus, dass wir solche Videos aus Schweizer Nobel-Urlaubs-Orten zu sehen bekommen werden.

Was denkst du über den Umgang mit Rassismus in Deutschland?

Folgst du schon 20 Minuten auf Whatsapp?

Eine Newsübersicht am Morgen und zum Feierabend, überraschende Storys und Breaking News: Abonniere den Whatsapp-Kanal von 20 Minuten und du bekommst regelmässige Updates mit unseren besten Storys direkt auf dein Handy.

Deine Meinung zählt