Bilaterale«Kein EU-Abkommen – das wäre wie kein Software-Update beim Handy»
Stefanie Walter, Professorin für internationale Beziehungen, zum Verhandlungsmandat und der Kritik von rechts und links.
Darum gehts
Der Bundesrat will bald mit der EU über ein Abkommen verhandeln, er hat die Leitlinien dazu vorgelegt.
Jetzt konsultiert der Bundesrat die Kommissionen und Kantone.
Stefanie Walter, Professorin für internationale Beziehungen, über die Chancen eines Abkommens.
Der Bundesrat will ein «Paket von Abkommen mit der EU» statt eines Rahmenabkommens. Er hat an einer Medienkonferenz die Eckpunkte eines Verhandlungsmandats dargelegt. Aussenminister Ignazio Cassis, Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider und Wirtschaftsminister Guy Parmelin haben informiert. Ziel der Einigung mit der EU ist es, die heutigen Abkommen zu aktualisieren und neue in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit abzuschliessen. Einer der Streitpunkte ist der Lohnschutz.
Frau Walter, glauben Sie, dass es dem Bundesrat diesmal gelingt, ein Abkommen mit der EU abzuschliessen?
Ich habe ein gutes Gefühl, der Bundesrat wirkte an der Medienkonferenz entschlossen. Er betonte die Vorteile der bisherigen Resultate und signalisierte, dass Differenzen beim Lohnschutz in der Schweiz innenpolitisch gelöst werden können. Denn für die EU ist klar, dass nach diesen vielen Sondierungsgesprächen nur noch über Details diskutiert wird.
Die EU macht Druck?
Ja, das erkennt man daran, dass die EU Anreize für einen raschen Verhandlungsabschluss setzt. Sie gibt Schweizer Forschenden mehr Zugang zu europäischen Forschungsprogrammen und kommt der Schweiz auch im Schienenverkehr entgegen. Dies ist jedoch auf 2024 beschränkt und wird nur verlängert, wenn die Verhandlungen erfolgreich sind.
Ist ein Abkommen mit der EU wichtig?
Lohnschutz innenpolitisch lösen – zum Beispiel mit einem Mindestlohn?
Oder mit besseren Gesamtarbeitsverträgen. Ich habe den Eindruck, dass die Gewerkschaften in diesen Verhandlungen vor allem Verbesserungen für die Arbeitnehmenden beziehungsweise für sich herausholen wollen. Auch die flankierenden Massnahmen waren ja im Prinzip eine innenpolitische Massnahme, mit der die Gewerkschaften damals ins Boot geholt wurden. Weil sie für die Lohnkontrollen mitzuständig sind, sind sie in der Schweiz auch so stark, viel stärker als in anderen europäischen Ländern.
Der Bundesrat sagt, das Lohnniveau in der Schweiz sei gesichert. Travailsuisse sagt, es sei nicht gesichert. Was stimmt?
Bei dieser Differenz geht es vor allem um die Frage, wie viel Spesen entsandte Arbeiter und Arbeiterinnen bekommen. In der EU werden Arbeitende nach den Spesenregeln ihres Herkunftslandes für Übernachtung, Essen, Arbeitsweg und so weiter entschädigt. Dieses Spesenniveau ist oft deutlich tiefer als jenes in der Schweiz. Die Gewerkschaften sehen die Spesen als Lohnbestandteil und wollen, dass dies anders geregelt ist. Für die EU hingegen ist es wichtig, dass überall dieselben Regeln gelten. Wie will sie sonst einem Geert Wilders in den Niederlanden erklären, warum er die EU-Regeln akzeptieren muss?
Von rechts befürchtet man eine Einwanderung in die Sozialwerke. Ist diese Befürchtung jetzt ausgeräumt?
Hier konnte der Bundesrat einiges herausholen. Für die Schweiz gelten jetzt Ausnahmen bei der Unionsbürgerrichtlinie. Nicht jeder EU-Angehörige bekommt eine unbeschränkte Niederlassungsbewilligung, sondern nur Arbeitskräfte. In der EU gibt es diese Beschränkung nicht. Zudem riskieren Arbeitnehmende, die arbeitslos werden und nicht mit dem RAV kooperieren, dass sie gehen müssen. Und kriminelle Ausländer und Ausländerinnen können weiterhin ausgeschafft werden.
Aber nach fünf Jahren können Arbeitnehmende bleiben, auch wenn sie dann arbeitslos werden.
Das ist auch richtig, schliesslich haben sie fünf Jahre lang in die Sozialwerke eingezahlt. Wer zudem länger hier gearbeitet hat, hat bewiesen, dass er oder sie nicht hergekommen ist, um zu faulenzen. Die Schweizer Sozialhilfe ist übrigens international gesehen nicht so attraktiv. Sie muss in mehreren Kantonen rückerstattet werden, in den meisten Ländern nicht.
«Im Abstimmungskampf muss der Bundesrat konkreter und verständlicher werden.»
Kaum jemand versteht, was der Bundesrat sagt. Es heisst etwa: «Der frühere Ansatz eines horizontalen institutionellen Abkommens klärte die Frage eines politischen Dialogs nicht. Geplant war lediglich ein horizontaler gemischter Ausschuss.» Hat ein Abkommen so beim Volk eine Chance?
Wir sind jetzt noch in der technischen Phase, und der Bundesrat richtete sich heute an Medien und ein politisches Publikum. Spätestens im Abstimmungskampf wird der Bundesrat konkreter und verständlicher werden müssen.
Ganz konkret: Warum braucht es ein solches Abkommen?
Weil unsere Volkswirtschaft vom Handel abhängt. Um uns herum ist ein riesiger Markt, die EU. Natürlich kann die Schweiz auch mit den USA oder mit China handeln, aber unser Handel allein mit Baden-Württemberg und Bayern ist grösser als jener mit China. Damit wir das erhalten können, brauchen wir ein neues Abkommen, die EU will das.
Und wenn wir Nein sagen?
Dann sagt die EU: Okay. Dann gelten für die Schweiz weiterhin die alten Regeln. Von allen Entwicklungen ist die Schweiz dann ausgeschlossen. Das ist, wie wenn man keine Software-Updates für das Handy macht - der Nutzen des bestehenden Systems wird mit der Zeit geringer. Zum Teil ist das heute schon so. Schweizer Zertifikate für Medizinprodukte werden in der EU nicht mehr anerkannt. Auch von der Forschung blieben wir ausgeschlossen. Bei einem Strommangel riskierte die Schweiz, von der EU nachrangig berücksichtigt zu werden. Die SBB droht von der europäischen Eisenbahnagentur ausgeschlossen zu werden, was für sie Mehraufwand bedeuten würde. Und so weiter.
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