Überbehütete Kinder: Schweizer Schulen sind überfordert mit Quengelkindern 

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Überbehütete KinderSchweizer Schulen sind überfordert mit Quengelkindern

Quengelig und unselbstständig: In der Schweiz stellen Lehrpersonen eine Zunahme von überbehüteten und verzogenen Kindern fest. Laut Experten ist das ein Problem. 

Kinder und Jugendliche sind laut deutschen Forschern so quengelig und unselbstständig wie nie. (Symbolbild)
«Ja, dieses Überbehüten und Verantwortung-Abnehmen kommt immer mehr vor», sagt auch Daniel Kachel, Sekundarlehrer und Präsident des Verbands der Sekundarlehrkräfte des Kantons Zürich. (Symbolbild)
Kachel vermutet, dass es einerseits damit zu tun hat, dass die Eltern ihre Kinder generell weniger oft sehen und sich mit ihnen auseinandersetzen können und sie deshalb auch aus schlechtem Gewissen versuchen, den Kindern vermeintlich als Entschädigung etwas Gutes zu tun. 
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Kinder und Jugendliche sind laut deutschen Forschern so quengelig und unselbstständig wie nie. (Symbolbild)

20min/Michael Scherrer

Darum gehts

  • Überbehütete Kinder neigen dazu, quengelig und unselbstständig zu sein, sagen Experten.

  • In der Schweiz stellen Lehrpersonen eine Zunahme von verzogenen Kindern und Jugendlichen fest. 

  • Experten nennen die Gründe und mögliche Folgen des Erziehungsstils. 

Kinder, die auf Klassenreisen nach ihrer Mama weinen, oder Eltern, die ihre Kinder bis ins Schulzimmer begleiten: Kinder und Jugendliche sind laut deutschen Forschern so quengelig und unselbstständig wie nie. Den Grund sehen sie in einem zu beschützenden Erziehungsstil. Einige Schulen in Deutschland hätten mittlerweile Verbotsschilder für Eltern aufgestellt. Der Grund: Lehrpersonen hätten sich beklagt, dass sie die Eltern nicht aus dem Klassenzimmer hinausbefördern könnten, schreibt die «Welt». 

«Ja, dieses Überbehüten und Verantwortung-Abnehmen kommt immer mehr vor», sagt auch Daniel Kachel, Sekundarlehrer und Präsident des Verbands der Sekundarlehrkräfte des Kantons Zürich. Kachel vermutet, dass es einerseits damit zu tun hat, dass die Eltern ihre Kinder generell weniger oft sehen und sich mit ihnen auseinandersetzen können und sie deshalb auch aus schlechtem Gewissen versuchen, den Kindern vermeintlich als Entschädigung etwas Gutes zu tun.

«Das ist ein gesellschaftliches Phänomen, an dessen Lösung wir unseren Teil in der Schule sicherlich zu übernehmen haben, indem wir als Institution uns überlegen, wo wir wieder vermehrt Eigenverantwortung fördern und auch einfordern können.» Dringend notwendig sei dabei, dass die Situationen direkt und unverblümt angesprochen würden und darauf hingewiesen werde, dass die Kinder und Jugendlichen sich schon selbst wehren könnten, wenn dies nötig sei. Kachel betont aber: «Die Schule soll keinesfalls die ganze Erziehungsarbeit übernehmen, das gehört immer noch sehr stark ins Elternhaus.» 

Laut Beat A. Schwendimann, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), ist das heutige Verständnis von Erziehung grundsätzlich sehr komplex: «Viele Eltern glauben, ihrem Kind etwas Gutes zu tun, indem sie alles organisieren und strukturieren. Doch damit gewöhnen sich die Kinder nur daran, dass alles um sie herum designt wird.» Die Folgen könnten Unselbstständigkeit, eine tiefe Frustrationstoleranz und geringes Durchhaltevermögen sein. 

«Überbehütete Kinder verkriechen sich zu Hause»

Gemäss Psychotherapeut Felix Hof neigen Eltern dann zu einem beschützenden oder überbehütenden Erziehungsstil, wenn sie selbst in ihrer Herkunftsfamilie tendenziell vernachlässigt worden sind, ihr Schutzbedürfnis als Kind oder Jugendlicher nicht oder wenig wahrgenommen worden ist, sie keine bejahende Elternbestätigung erfahren haben und sie unsicher gebunden waren. 

«Natürlich spreche ich Eltern auf überbehütendes Verhalten an, was aber mit höchster Vorsicht und Empathie zu erfolgen hat, da Überbehütung im Leben dieser Eltern eine unterstützende und stabilisierende Funktion für deren psychisches Befinden hat und sie für ihren Nachwuchs sowieso nur das Beste wollen», so Hof. Handlungsbedarf gebe es bei Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen mit Störungen in der Autonomieentwicklung oder Ängsten und Selbstverunsicherungen.

Psychotherapeut Thomas Spielmann glaubt, dass die Überbehütung unter anderem auch mit der zunehmenden Gewalt im öffentlichen Raum und an Schulen sowie dem Mobbing an Schulen zusammenhängt: «Immer mehr Eltern zeigen sich besorgt und versuchen, ihre Kinder zu schützen, indem sie sie beispielsweise regelmässig in die Schule fahren oder in ständigem Kontakt sein wollen. Das sind nicht per se schlechte Eltern, viele von ihnen haben einfach Angst um ihre Kinder.» 

Die Folgen seien gravierend: «Überbehütete Kinder verkriechen sich zu Hause, weil sie sich dort sicher fühlen. Dies kann sich durch die ganze Kindheit ziehen und unter anderem zu Vereinsamung, Angststörungen und Depressionen im Erwachsenenalter führen.» Besser sei es, die Kinder in einem sicheren Umfeld ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen, wie beispielsweise bei Freizeitaktivitäten in einem Sportverein.

Ein Vater, der seinem Sohn den Rucksack trägt und Schüler, die ihre Eltern während des Unterrichts kontaktieren:  Beispiele zeigen, wie unselbstständig Kinder und Jugendliche sind.

Wie bist du aufgewachsen? 

Hast du oder hat jemand, den du kennst, eine psychische Erkrankung?

Hier findest du Hilfe:

Pro Mente Sana, Tel. 0848 800 858

Kinderseele Schweiz, Beratung für psychisch belastete Eltern und ihre Angehörigen

Verein Postpartale Depression, Tel. 044 720 25 55

Angehörige.ch, Beratung und Anlaufstellen

VASK, regionale Vereine für Angehörige

Pro Juventute, Beratung für Kinder und Jugendliche, Tel. 147

Dargebotene Hand, Sorgen-Hotline, Tel. 143

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