Abriss von 99 Wohnungen«So hohe Mieten kann ich nicht zahlen» – Siedlungen weichen Neubauten
In Witikon wird eine Wohnsiedlung mit 99 Mietparteien durch teurere Neubauten ersetzt. Viele Bewohnerinnen und Bewohner sind verzweifelt.
Darum gehts
In Witikon muss eine Wohnsiedlung aus den 1960er-Jahren Ersatzneubauten weichen.
Insgesamt 99 Mietparteien müssen deshalb per Ende März 2024 ihre Wohnung verlassen.
Viele der Bewohnerinnen und Bewohner der Wohnsiedlung sind verzweifelt, weil sie in ihrem Quartier keinen erschwinglichen Wohnraum mehr finden.
Die Wohnungsnot in Zürich wird immer grösser: Nicht zuletzt aufgrund der rekordhohen Zuwanderung steigen die Mietpreise unaufhörlich weiter. Doch auch sogenannte Ersatzneubauten treiben die Preise in die Höhe. Sprich: Abriss des Gebäudes und anschliessender Neubau. Auch die Wohnsiedlung an der Witikonerstrasse 430 bis 468 soll dem Erdboden gleichgemacht werden. 177 Wohnungen sollen vor Ort neu entstehen. Bis März 2024 müssen deshalb 99 Mietparteien ausziehen.
Theoretisch bleibt den Bewohnenden genug Zeit, um sich eine neue Bleibe zu suchen, nur: «Das Quartier verfügt kaum über gemeinnützigen Wohnraum», sagt AL-Gemeinderat Mischa Schiwow. «Damit geraten insbesondere viele ältere Menschen, die ihr Leben in Witikon verbracht haben, auf den ohnehin schon ausgedünnten Wohnungsmarkt.» Schiwow hat kürzlich im Gemeinderat eine dringende schriftliche Anfrage zur Thematik eingereicht.
«Hier lebt man nachher wie in Hasenställen»
Ihr Zuhause nicht kampflos aufgeben will Daina Vogel (39). Zusammen mit 40 anderen Mietparteien hat sie eine Fristerstreckung eingereicht. Noch mehr als die Kündigung störten sie die neuen Baupläne: «Zurzeit hat jede Wohnung einen Balkon oder eine Terrasse, nachher gibt es nur noch geschlossene Loggien.» Dass es in der Neubausiedlung dann viel mehr Wohnungen geben soll, klinge anfangs gut, doch dabei gehe sehr viel Lebensqualität verloren: «Hier lebt man nachher wie in Hasenställen.»
Bruno Müller-Hiestand (80) wohnt mit seiner Frau Ursula (80) seit rund 50 Jahren in der Siedlung. «Unsere Kinder sind hier gross geworden, doch nun sehen wir uns nach anderen Wohnungen um.» Es scheine jedoch so, dass bezahlbare Wohnungen in der Stadt Zürich nur noch in Liegenschaften mit Baujahr in den 1960er und 1970er zu finden seien. «Zieht man dort ein, ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie ebenfalls leersaniert oder abgerissen wird und die Wohnungssuche von neuem beginnt.» Die Vorstellung, aus Zürich wegzuziehen, sei aber nur «schwer ertragbar».
Verzweifelt ist auch eine andere betagte Anwohnerin, die seit den 70er-Jahren in der Siedlung wohnt. Auf ihrem Esstisch im Wohnzimmer stapeln sich die Papiere. Sie sagt: «Gleich nach der Kündigung habe ich mit der Suche begonnen.» Bisher blieb der Erfolg jedoch aus: «So hohe Mieten kann ich mir schlicht nicht leisten.» Und auch alle Alterswohnungen im Quartier seien derzeit besetzt.
Wohnungen im «mittleren Segment»
Dass die Wohnungen einem Ersatzneubau weichen müssten, sei unumgänglich, sagt Markus Scherbel, Geschäftsführer der Ersian AG. «Die Gebäude sind über 60-jährig und letztmalig vor rund 20 Jahren saniert worden. In naher Zukunft würde daher eine erneute Sanierung der Bausubstanz anstehen.» Vor allem die Gebäudehüllen entsprächen nicht mehr den heutigen Anforderungen, was einen kompletten Ersatz der Wärmedämmung einschliesslich Fenster und Rollläden erfordern würde.
Die Ersian AG stelle so «zeitgemässen und attraktiven» Wohnraum für die nächsten Jahrzehnte bereit, sagt Scherbel. Zudem stelle die höhere Verdichtung – also das grössere Wohnungsangebot – eine der städtebaulich gewünschten Massnahmen gegen die Wohnungsnot dar. «Mit einer Sanierung im Bestand könnte das raumplanerisch sinnvolle und massvolle Verdichtungspotenzial nicht genutzt werden.»
Preislich gehe die Firma davon aus, dass die neuen Wohnungen im mittleren Segment angesiedelt würden, so Scherbel. «Wir werden uns bei der Fertigstellung des Baus nach den quartierüblichen Zinsen für Neubauten richten.» Für ältere Mieter und Mieterinnen kümmere sich allerdings ein vom Unternehmen angestellter Mietcoach um Unterstützung bei der Suche einer Wohnung, Alterswohnung oder eines Platzes im Altersheim.
Wurde dir die Wohnung auch schon wegen eines Ersatzneubaus oder einer Leersanierung gekündigt?
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