Tiktok-Trend: Dutzende Videos über Hochsensibilität verbreiten sich

Publiziert

Social-Media-TrendHochsensibilität ist die neuste Modekrankheit im Internet

Dutzende Videos zum Thema Hochsensibilität kursieren zurzeit auf Tiktok. Laut Experten können gerade Jugendliche sich damit identifizieren und stellen Selbstdiagnosen. Das könne problematisch sein.

Die 27-jährige Nikolina ist hochsensibel. Und erzählt über ihre Erfahrungen damit auf Tiktok.
Dutzende andere Hochsensible machen ihr das auf Tiktok nach und geben Tipps.
Viele, die die Videos sehen, erkennen sich darin wieder – und schlussfolgern, dass sie selber hochsensibel sind.
1 / 8

Die 27-jährige Nikolina ist hochsensibel. Und erzählt über ihre Erfahrungen damit auf Tiktok.

TikTok/nikolina.livabelle

Darum gehts

  • Videos, in denen Betroffene ihre Hochsensibilität beschreiben, trenden derzeit auf Tiktok.

  • Viele User «diagnostizieren» sich dadurch selbst als hochsensibel.

  • Betroffene und Experten sehen das kritisch – auch wenn es grundsätzlich gut sei, sich mit seiner sensiblen Seite auseinanderzusetzen.

«Lichter, Gerüche, Geräusche und andere Menschen wirken ungefiltert auf mich ein. Auch körperliche Empfindungen, wie Hunger, Müdigkeit, Schmerzen und Gefühle, spüre ich intensiver.» Das erzählt die 27-jährige Nikolina ihren Followern auf Tiktok – und kommt zum Schluss: «Ich bin hochsensibel.» Sie erklärt, Reize besonders intensiv wahrzunehmen und positive wie negative Gefühle stärker zu empfinden. Situationen wie ein lärmiges Geburtstagsfest bedeuten für die Berlinerin eine extreme Stresssituation.

Mit diesen Gefühlen ist Nikolina nicht alleine. Dutzende Videos tauchten in den letzten Tagen auf der Plattform auf, in denen vor allem junge Frauen davon berichten, wie sie herausgefunden haben, dass sie hochsensibel sind. Nikolina trägt das an die Öffentlichkeit, um anderen Tipps zu geben. Die Kommentare und Reaktionen zeigen: Viele, die die Videos sehen, erkennen sich darin wieder – und schlussfolgern, dass sie selber hochsensibel sind.

«Menschen reden sich ein, krank zu sein»

Auch Stéphanie aus St. Gallen sind die vielen Tiktok-Videos aufgefallen. Sie habe von ihrem Psychologen erfahren, dass sie hochsensibel sei, erzählt sie 20 Minuten. Dass Tiktok-Userinnen nur aufgrund solcher Videos denken, sie seien hochsensibel, hält die 25-Jährige für gefährlich: «Es ist problematisch, weil dieselben Symptome bei verschiedenen Krankheitsbildern auftauchen. Es besteht die Gefahr, dass diese falsch angegangen und vermischt werden. Menschen reden sich ein, dass sie krank sind, obwohl sie einfach nur sehr stark beeinflusst werden von Social Media», sagt Stéphanie.

Ganz anderer Meinung ist die 27-jährige Elisabeth aus Dresden (DE), die sich ebenfalls als hochsensibel bezeichnet: «Durch diese Tiktok-Videos konnte ich mich selber hinterfragen und reflektieren. Mein Leben hat sich seither zum Positiven verändert.» Es gebe kaum Psychologen, die sich mit dem Thema auskennen oder Diagnosen stellen würden. «Und trotzdem weiss ich, dass ich mich anders fühle.»

«Nutzer können sich nicht mehr distanzieren»

Die Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Psychiatrischen Uniklinik Zürich, Susanne Walitza, sieht eine Zunahme von verschiedenen Störungen und Phänomenen, die mit Tiktok und Medienkonsum zusammenhängen. «Nutzer erkennen sich wieder und können sich nicht mehr distanzieren. Man identifiziert sich mit dem, was man sieht.» Sogar Tourette- oder Essstörungen hätten so zugenommen.

Was hältst du von diesem Tiktok-Trend?

Auch, dass vor allem Frauen mit diesen Themen in den sozialen Medien präsent sind, erstaunt Walitza nicht: «Frauen und Mädchen sprechen mehr über Gefühle und suchen von sich aus mehr Hilfe.» Das Internet sei aber nicht immer der richtige Ort: «Gerade für hochsensible Personen ist Tiktok mit seiner extremen Reizüberflutung ein anstrengender Ort.»

Hochsensibilität ist keine Diagnose

Der Psychotherapeut Simon Gautschy hat bei seinen Patienten schon oft eine erhöhte Sensibilität festgestellt. Hochsensibilität sei aber keine Diagnose. «Es handelt sich nicht um eine messbare Erkrankung oder Störung, sondern lediglich um eine andere Wahrnehmung.» Eine Gefahr sieht er in den Tiktok-Videos nicht: «Ich finde es gut, wenn Menschen sich mit ihren sensiblen Seiten auseinandersetzen.»

Problematisch kann es laut Gautschy dann werden, wenn Menschen anfangen, Hochsensibilität als Rechtfertigung für andere Schwierigkeiten vorzuschieben, etwa für Traumata oder Ängste. «Solche Probleme sollten direkt mit therapeutischer Hilfe angegangen und nicht einfach auf die Hochsensibilität abgeschoben werden.»

Ist es ein Problem der Generation Z?

Hochsensible Menschen hat es laut Gautschy schon immer gegeben. Dass künftig mehr als die heute bekannten 15 bis 20 Prozent der Menschen davon betroffen sein werden, glaubt er nicht. «Weil die modernen Lebensbedingungen öfter zur Überreizung und Erschöpfung führen, fällt Hochsensibilität heutzutage einfach schneller auf.»

Hochsensibilität sei auch kein spezifisches Problem der Gen Z. Dass sich durch die Social-Media-Plattformen alles immer schneller vervielfältige und verbreite, sei eine schöne Erscheinung der modernen Gesellschaft. «Menschen dürfen auf unterschiedlichste Arten und Weisen sein und sich entdecken, im Gegensatz zu früheren Generationen, in denen ‹Sensibelsein› oft mit Schwäche oder Ungenügen verbunden war.»

Was ist Hochsensibilität?

Hochsensibilität ist laut Susanne Walitza von der psychiatrischen Uniklinik Zürich ein Merkmal der Persönlichkeit. Wahrnehmungen sind intensiver, Ausseneinflüsse werden ungefiltert gleichzeitig wahrgenommen. Grosse Menschenmassen sind dann unangenehm. Hochsensible Menschen sind häufig sehr einfühlsam. Sie laufen Gefahr, gemobbt zu werden, wenn sie ihre Stärken nicht nutzen können, sondern nur den Schwächen ausgeliefert sind. Hochsensible sind eher fantasievoll, verträumt wirkend, empfindsam, eher Einzelgänger und schneller von Stress überwältigt.

Keine News mehr verpassen

Mit dem täglichen Update bleibst du über deine Lieblingsthemen informiert und verpasst keine News über das aktuelle Weltgeschehen mehr.
Erhalte das Wichtigste kurz und knapp täglich direkt in dein Postfach.

Deine Meinung zählt

259 Kommentare
Kommentarfunktion geschlossen